Krystian Lupa und Joel Pommerat beim Printemps des Comediens

Theaterfestival in Montpellier
Die Arbeit am Verschwinden
von Eberhard Spreng

In den letzen Jahren hat das Festival Printemps des Comédiens im südfranzösischen Montpellier immer mehr große europäische Regiehandschriften im Programm versammelt. Auch in diesem Jahr sind u.a. mit Krystian Lupa und Joël Pommerat bedeutende Regisseure vertreten. Sie inszenieren „Balkony – Pieśni Miłosne“ und „Marius“

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 15.06.2024 → Beitrag hören

Eine gewaltige abgeblätterte Fassade füllt die gesamte Bühne aus. Mauerwerk ist sichtbar, Reste vergrauter Anstriche, Putzausbesserungen. An den Seiten vier Balkone. Und auf denen taucht mal hier, mal da jemand auf. Fetzen von Gesprächen werden hörbar: Von einem alten Mann ist die Rede, der im Sterben liegt. Aber so wie der polnische Regisseur Krystian Lupa all das inszeniert, stellt sich sofort auch die Frage, ob nicht auch all die Gestalten, die dort auftauchen, auch schon tot sind oder nur als Erinnerungen realer Figuren in Erscheinung treten. Videoprojektionen auf der Fassade aus durchscheinendem Stoff unterstreichen das Spiel mit Wirklichkeit und Ahnung, Realität und Vorstellungswelt: ein Frauenporträt erscheint wie ein Gemälde in einer Ahnenreihe, dann blendet sich statt des Bilderrahmens ein Fensterkreuz um das Gesicht: Aus Bild und Erinnerung wird der Blick aus dem Fenster. In einem überaus kunstvollen Setting verwischen sich die Grenzen zwischen Innen und Außen, Heute und Gestern, Wirklichkeit und Vorstellung.

Außer wenigen lauten Momenten ist vor allem ein Hauchen zu hören, ein Seufzen und Wimmern. In die Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler mischt immer wieder aus dem Off die Stimme des Regisseurs, mit hingemurmelten Kommentaren und Anweisungen. Auch das soll zeigen: Die Aufführung selbst ist etwas gemachtes und: Zwischen Spiel und Geschichte, zwischen Akteurin und Figur gibt es einen unüberwindbaren Graben. Lupa inszeniert, kurz nach seiner Arbeit über W. G. Sebald am Odéon-Theater wieder ein Stück über die Unschärfe der Erinnerung und die Ungenauigkeit der Vorstellung. Und er montiert mit dramaturgischem Mutwillen Bilder aus „Bernarda Albas Haus“ des Federico Garcia Lorca mit Passagen aus John Maxwell Coetzees fiktiver Autobiografie „Sommer des Lebens“. „Balkony – Pieśni Miłosne“, also etwa ”Balkone – Liebesgesänge“ nennt sich seine Meditation und erzählt vom Sich-Verpassen zwischen Mann und Frau in der Liebe.

Das ist, unendlich viel greifbarerer, auch der Plot des provençalischen Boulevardstücks „Marius“ des legendären Marcel Pagnol. Der erste Teil seiner Marseille-Trilogie erzählt auf dem Theater 1929 und im Film 1931 die unglückliche Liebe zwischen der Fischverkäuferin Fanny und der Titelfigur Marius, den es aus dem engen Milieu am Hafen von Marseille hinaus zieht auf die Weltmeere. Meisterregisseur Joël Pommerat hat diesen Stoff mit Strafgefangenen in Arles neu erarbeitet und in ein heutiges Ambiente verpflanzt.

Foto: Compagnie Louis Brouillard

„J’ai envie de voir ailleurs, j’ai envie de bouger, j’en peux plus, j’étouffe ici, besoin de partir … “
„Ich muss hier raus, ich halte es nicht mehr aus“, sagt dieser Marius und die Befreiung des jungen Protagonisten aus dem Hiwi-Job in Vaters Hafenkneipe, die Pagnols Stück erzählt, wird angetrieben von der Erfahrung des Enge im Knastalltags der Akteure. Der Regisseur untersucht so mit Strafgefangenen anhand des legendären Boulevardstücks auch die Frage des Ausbrechens aus vorgestanzten Rollenbildern und soziokulturellen Identitäten.

Wo Lupas polnisches Ensemble immer das Verschwinden aus der Existenz spielen soll, sind diese robusten Typen auf der Freilichtbühne des Schauspielerfestivals in Montpellier physisch quasi überpräsent. In jedem Auftritt, jeder Geste, erkennen wir eine Körpersprache, die vor allem auch von postmigrantischen Randgruppen geprägt wird. Und wir hören dieses spezifische Französisch der Unterschicht.

„Je vais te montrer comment il faut faire, déjà il te faut une présence commerciale“

„Ich zeige dir, wie du dich als Gewerbetreibender benehmen musst“, sagt der Vater des Titelhelden. Joël Pommerat hatte bereits in früheren Arbeiten in genauem Spiel und präziser Sprecharbeit Körper und Stimmen der Unterschicht als Gegenstand des Theaters ins Bewusstsein des Publikums gebracht. Hier lotet er aus, wie die vor Macho-Autentizität trotzenden Akteure um die zentrale Frauenfigur Fanny fürs Spiel auf der Bühne sensibilisiert werden können. Zwischen Lupa und Pommerat könnten die Spielformen kaum unterschiedlicher sein. Aber gerade deshalb beweist der Printemps des Comédiens – der Montpelleriner Schauspielerfrühling aufs Neue, dass der Kern allen Theaters der Körper von Spielerinnen und Spielern ist.

Krystian Lupa inszeniert W.G. Sebald: „Die Ausgewanderten“ am Odéon in Paris

Joël Pommerat inszeniert: „Contes et Légendes“