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Theater in Paris
Sie küssten und sie schlugen sich
von Eberhard Spreng

Die Familie als Keimzelle der Gewalt in der Gesellschaft: Drei neue Arbeiten in Paris behandeln die Thematik. Als Meisterwerk sticht dabei Joël Pommerats neue Arbeit „Contes et Légendes“ über Jugend, Persönlichkeitsentwicklung und künstliche Intelligenz heraus.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 14.01.2020 → Beitrag hören

Weihnachten en Famille, und ein Shakespeare als Spiel
„Un Conte de Noël“ (Foto: Simon Gosselin)

Eine Familie im Stressmodus: Es ist Weihnachten und deshalb kommen Menschen zusammen, die sich sonst besser aus dem Weg gehen sollten. Außerdem ist bei der Familienmutter Junon ein Blutkrebs diagnostiziert worden. In „Un Conte de Noël“, dem preisgekrönten Film von Arnaud Desplechin von 2008, spielte Catherine Deneuve die Hauptrolle. Julie Deliquet hat das nun mit anderer Besetzung für die Bühne eingerichtet. Theaternah war die dramatische Familienkomödie auch schon in ihrer Filmversion. Nun bekommt der Stoff auf der Bühne eine tschechowsche Note. „Toi, tu cours à droite, à gauche, en te faisant du souci, tu faisais l’obligeant, et pendant ce temps là Elisabeth et Junon décidaient de tout ici… – Fais attention aux autres, Henri…“ Es geht um Machtkonflikte in der Familie. Der Streit um Geschichten aus der Vergangenheit, unaufgearbeitete Konflikte lassen die Situation immer wieder aus dem Ruder laufen. Am Ende, nach einem Abschied im Streit, greift Vater Abel zu Friedrich Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ und liest dort: „Wir bleiben uns eben fremd, wir verstehen uns nicht“ und für all den handgreiflichen Familienstreit, den intoleranten Zank um die richtige Einstellung zum Leben gibt es nun einen philosophischen Erklärungsversuch.

Auch hier, wie am Odéon, eine Arenabühne
„Tout le monde ne peut pas être orphelin“

Einen Abend später, im 10 Kilometer entfernten Bobigny, Ein Déjà-vu-Erlebnis: Auf einer ganz ähnlichen Arenabühne mit dem Publikum an den zwei Längsseiten hat Jean-Christophe Meurisse ein weiteres weihnachtliches Familienzusammentreffen eingerichtet. Der Regisseur leitet die Theatergruppe „Les Chiens de Navarre“ und die ist im französischen Theater ungefähr das, was Charlie Hebdo in der französischen Presselandschaft ist. Also wird in „Tout le monde ne peut pas être orphelin“ der innerfamiliäre Generationenkonflikt in einem grotesk-klamaukigen Schlagabtausch ausagiert: Anal, oral, ödipal und ohne jede Scheu vor grellen Ideen, inklusive einer in der Kloschüssel verschwindenden Schwiegertochter. Am Ende sind auch in diesem Salon alle abgereist, die Mutter gestorben, der Vater ein Pflegefall. Die Menschheit verschwindet. Zweimal Familie zu Weihnachten, einmal als komisches Drama, einmal als derbe Karikatur.

Eine Gruppe von Jugendlichen und ihre Rituale
„Contes et Légendes“ (Foto: Elizabeth Carecchio)

Wer aber erfahren will, über welche Mechanismen die Familie die Grundlagen legt für alle Formen der Gewalt in der Gesellschaft, der erfährt in der hervorragenden neuen Arbeit des Autors und Regisseurs Joël Pommerat einige fein herausgearbeitete Motive. In „Contes et Légendes“ werden in einer nahen Zukunft die Jugendlichen in ihrer Entwicklung von menschenähnlichen Robotern begleitet, die ihre schulischen Erfolge verbessern sollen, die immer abwesenden Eltern ersetzen, zu künstlichen Freunden werden. Klug sind die Artefakte hier als etwas gutmütig und leicht begriffsstutzig angelegt, so dass sich ihnen nicht alle Nuancen der menschlichen Kommunikation erschließen. So mischt sich auch die Verlockung der  Manipulation und Beherrschung in das Spiel der Jugendlichen mit den Artefakten. War Nietzsches „Wir kennen uns nicht“ Leitmotiv für die Gewaltspirale der Familie am Odéon, so wird hier in einer losen Szenenfolge mit präzis angelegten Beziehungsstudien die Sphäre zwischen Persönlichkeitsentwicklung, Liebe und Macht ausgelotet. Mit ein paar Möbeln, spärlichsten Dekorelementen, einem hypergenauen Spiel. Wann ist ein Gefühl wahr? Was ist authentisch? Pommerat hat sowohl die Jungen, die Mädchen als auch die gemütlich lächelnden Roboter mit jungen Schauspielerinnen besetzt. Und die jungen Frauen spielen die Jugendlichen beiderlei Geschlechts perfekt. Genderperformance, Körperbilder und Bewegungsmuster als Studienobjekte in subtilsten Nuancen. Pommerats Realismus ist perfekte Beherrschung szenischer Mittel und zugleich suggestiv berauschender Theaterschamanismus.

„Ferme ta gueule ! – Comment tu me parles, t’as une bite, toi ? Tu me manque trop de respect. Mais, je vais te défoncer ta gueule, je te jure. – Je te crache dessus, je te noie… – Mais comment tu me parle, ici, je crève tout le monde.“ Die einleitende Szene ist ein Meisterwerk an sich, weil der hastige, aggressive und provozierende Jugendslang der Vorstädte präzis herausgearbeitet ist. Hier erschließt das Theater ein ansonsten völlig unzugängliches Sprachuniversum. Pommerat kann sogar in Klischeebereichen, in die sich sonst kein Theater mehr hineinwagen kann, ohne lächerlich zu werden, anthropologische Erkenntnisse hervorzaubern: Das Rätsel Mensch ist nirgends spannender zu erkunden, als auf dieser Bühne. Wer sich noch für Menschentheater interessiert, wer vom Theater noch etwas anders erwartet, als diskursiv aufgehübschte Politbotschaften, der muss nach Paris fahren und sich „Contes et Légendes“ anschauen.