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Literaturadaption in Paris
Auf den Schmerzspuren der Geschichte
von Eberhard Spreng

Der polnische Starregisseur Krystian Lupa inszeniert zwei der vier Erzählungen aus W.G. Sebalds „Die Ausgewanderten“. Schon im Frühsommer des vergangenen Jahres sollte das Projekt in Genf herauskommen. Das war am Streit mit den dortigen Bühnentechnikern gescheitert. Die Premiere war jetzt am Pariser Odéon.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 16.01.2024 → Beitrag hören

Foto: Simon Gosselin

Auf einer großen Gaze, die vor dem Bühnenbild aufgespannt ist, leuchtet das Porträt eines nachdenklichen, jungen Mannes auf. Dann verblasst dieses Bild wieder, um den Blick auf die Bühne dahinter freizugeben, auf der eine andere Zeitebene dargestellt wird. Es ist ein Theater der Erinnerungen und Zeitsprünge, das Krystian Lupa inszeniert. Die Geschichte von Paul Bereyter, des begeisterten, bedingungslos engagierten Dorfschullehrers steht am Anfang.

Le lendemain matin je me rendis à ma nouvelle école…

Auf der visuell ungemein vielschichtigen Bühne des Krystian Lupa vermischen sich Erinnerungen und Ereignisse, Theater der Körper und Projektionen von Filmbildern. In Videoszenen kommt die Dorfschule ins Bild, dann doppelt sich die Szene auf der Bühne. Ein weiteres Bildzitat überformt diese Erinnerungsebene: Ein Ausschnitt aus der „Toten Klasse“ von Theaterlegende Tadeusz Kantor von 1975 wird eingeblendet, eine emblematische Arbeit der polnischen Theateravantgarde. Krystian Lupa tupft, visuell raffiniert und ausgeklügelt, Bilder auf die Bühne, verwischt sie wieder, zeigt so die Unzulänglichkeit der menschlichen Erinnerung, die es nur als Fragment, Skizze und Ahnung geben kann und nie als gesicherte Erkenntnis. Manche der bei Sebald nur angedeuteten Figuren bekommen in diesem Theater ein neues Profil. Die berührendste Neuschöpfung ist die von Mélodie Richard verkörperte Helen, die jüdische Freundin des Dorfschullehrers, die nicht verstehen kann, warum ihr Freund sein Engagement und seine pädagogische Gabe in den Dienst von Nazi-Deutschland stellen will.

Pourquoi tu veux à tout prix être un allemand, Paul …

Warum willst du unbedingt ein Deutscher sein?, fragt Helen, die später in einem Vernichtungslager umkommen wird, während Nazideutschland ihm die Lehrerlaubnis entzieht, da einer seiner Großväter Jude war. Zunächst emigriert nach Frankreich, kehrt der Dorschullehrer Bereyter später nach Deutschland zurück in ein persönliches Unglück, das ihn in den Selbstmord treibt. Was ist ein Deutscher, wenn er sein Land verlassen hat?, fragen sich die Protagonisten im zweiten Teil der vierstündigen Aufführung. Nun wird die Geschichte des Butlers Ambros Adelwarth erzählt, ein in die USA ausgewanderter Deutsche, der dort in eine homoerotische Beziehung zu Cosmo, dem Sohn seines Arbeitgebers gerät. Die Reisen der beiden enden in Trümmerlandschaften und Industrieruinen. Auch Ambros homosexueller Freund Cosmo zerbricht an der Welt, sein Wahnsinn ist individueller Spiegel einer kollektiven Katastrophe: Der Shoah.

Foto: Simon Gosselin

Sebald war in seinen Texten den Schmerzspuren der Geschichte gefolgt, hatte individuelle Folgen einer kollektiven Auslöschung ausgemacht. All das waren Andeutungen, Fragmente von Leben und keine abgeschlossenen Charakterstudien. Das Theater gibt diesen Menschen nun auch Gestalt und erfindet für sie Dialoge und Situationen, die über die literarische Vorlage hinausgehen. Sebalds Sprachkunst kann die Toten nicht ins Leben zurückholen; das Erinnern hat eine Grenze, die Literatur erzählt so auch ihr eigenes Scheitern. Und das Theater? Es füllt die Leere auf, die diese Literatur umreißt. Es kann ja, als Kunst der realen Präsenz, gar nicht anders. Regisseur Krystian Lupa weiß um das Paradox und lässt sein Ensemble auf der Bühne verhalten, zögernd, leise agieren, so als gäbe es ihre Figuren nicht wirklich.

Mon père a acheté cette maison à l’été en mille neuf cent trente… deux ans après la mort de ma mère…

Lupas Theater verzaubert, entführt in ein Labyrinth, das am Ende aber auch lähmt, ermüdet und stellenweise unfertig wirkt. Er inszeniert ein Requiem für Menschen, deren Leben zwar nicht in den Vernichtungslagern endete, aber in der Verzweiflung über diese unerträgliche deutsche Geschichte. Zum Schlussapplaus holte das Ensemble sofort auch die Techniker auf die Bühne, Menschen, ohne die eine solches Theater nicht denkbar ist. Das ist als Geste zu werten, nachdem das Projekt im letzten Frühsommer in Genf am Dissens der dortigen Technikequipe mit dem radikalen Probenstil des polnischen Regisseurs gescheitert war. Erst in Paris konnten „Les Émigrants“ zuende geprobt werden. Das ist Theater aus einer vergangenen Zeit, von dem letzten verbliebenen Regiegranden der 68-er Generation.