Luk-Perceval-vollendet-seine-Belgien-Trilogie-mit-Red-Holy-War

Belgien-Trilogie am NTGent
Das Elend kennt keine Religion
von Eberhard Spreng

2016 kamen bei Terroranschlägen am Brüsseler Flughafen Zaventem und der Metro-Station Maelbeek 35 Menschen ums Leben. Dies und die Pariser Anschläge von 2015 sind Anlass für den dritten Teil der Trilogie „The Sorrows of Belgium“. Regisseur Luk Perceval beschließt sie mit „Red – Holy War“.

Deutschlandfunk, Kultur Heute 28.04.2022  – Beitrag hören

Foto: Michiel Devijver

Zerborstene Teile eines großen Billardtisches hängen über der Bühne, wie Fragmente nach einer Explosion. Eine stille, bewegungslose Wolke, die Momentaufnahme eines hoch dynamischen Ereignisses. Auf dem Boden ist im Bühnennebel noch das Chassis des Spieltisches zu erahnen. In dieses Dekor stellen sich die zehn Akteurinnen und Akteure zu einem stillen Gruppenbild. Erst langsam findet die Sprache Eingang in dieses Bild des Chaos und steigert sich schnell zu einem Durcheinander, zu einer Wortwolke. Zur akustischen Entsprechung des Szenenbildes.

Leitfaden der Handlung in dieser theatralen Installation ist eine Verhörsituation: Ibrahim sitzt auf einem Stuhl auf der Vorderbühne und schweigt. Er ist der Vater von Younes, der verdächtigt wird, an den Pariser Attentaten vom November 2015 beteiligt gewesen zu sein. Aber wer da den verschlossenen Mann in ein Gruppenkreuzverhör nimmt, sind nicht professionelle Ermittler, sondern wie zufällig zusammenkommende Stimmen aus der Gesellschaft, einer von Hass, Zorn, Angst und Antiislamismus geprägten Gesellschaft. Warum kamen die Attentäter von Paris aus Belgien? Warum setzte diese belgische IS-Gruppierung ihre Attentate im März 2016 am Brüsseler Flughafen Zaventem und in der Metro-Station Maelbeek fort? Warum reisten in diesen Jahren so viele IS-Anhängerinnen und Anhänger aus Belgien in Gebiete des Islamischen Staates? Woher kommt das Gewaltpotential in Belgien? Mit all diesen Fragen will sich Luk Perceval nach den Kongo-Gräuel im ersten Teil und der militärischen Kollaboration mit der Naziarmee nun beschäftigen.

“Do you think this is helping you by keeping quiet? Do you think, this is a smart move? I’m talking to you! Pour la soixante-quinzième fois de la journée : Ibrahim ! Où est ton fils ? “

Die Fragen, die auf den Mann im Verhör einprasseln, suchen nach Erklärungen für den islamistischen Terror im Abendland. Nur langsam und zögernd kommen, an diesem vor allem flämisch-, englisch und französischsprachigen Abend, statt einer einfachen Antwort Fragmente einer eigenen traumatischen Erfahrung aus dem Mund dieses Ibrahim: Szenen der Gewalt im nahen Osten, bis zur Vergewaltigung seiner Frau, die man ihn mit anzusehen zwang. Der Abend ist jetzt in einen anderen Hallraum eingetreten, wartet zum Beispiel mit der Beobachtung auf, dass es immer Soldaten in den immer gleichen schwarzen Lederstiefeln sind, die einen vermeintlichen Frieden bringen sollen, aus den USA, aus England oder aus Italien. Nun knüpft Perceval mit der Chronik des Neokolonialismus an den ersten Teil seiner Trilogie an, in dem es um Rassismus, Sklaverei und abendländischen Imperialismus ging.

Metaphorik und Symbole

Ibrahims Klagegesang ist die poetische Antwort des Menschen auf ein namenloses Elend, das seine Existenz auf dieser Erde begleitet. Und dieses Elend hat eigentlich keine Weltanschauung, keine Religion, keine Begründung. Nichts, was Sprache erklären könnte. Perceval sucht nicht nach Schuldigen, hat keine dokumentartheatralen Erklärungsmuster, keine Lösungsrezepte. Was er aber zeigt, ist die Kontinuität von Gewalt, die sich zwischen den Generationen fortschreibt, wenn sie nicht verarbeitet und bewältigt wird: In den Seelen der Menschen leben Kriege und Gewalt eben fort, auch wenn sie schon längst aus den aktuellen Medienberichten verschwunden sind. Percevals theatrale Meditationen wollen Traumaforschung betreiben, sind metaphorisch, symbolhaltig: Ein Billardtisch stand zu Beginn der Trilogie vor drei Jahren mitten in einer afrikanischen Landschaft, als Bild für einen willkürlichen Kulturimport. Nun hängt er als zersprengtes Fragmentgebilde über einer belgischen Gesellschaft, in der die destruktiven Kräften der Globalisierung nun auch angekommen sind. Auf kreuz und quer über der Bühne verstreuten Videobildschirmen sehen wir unscharfe Bilder von Gepäckstücken und Menschenkörpern, hören Stimmen mit Berichten vom Morgen des 22. März 2016, kurz bevor die Terroranschläge Brüssel trafen.

Luk Percval lässt das Publikum mit diesem Abschluss seiner Trilogie „The Sorrows of Belgium“ etwas ratlos zurück. Da ist Theater einmal nicht als großer Alleserklärer für die drängenden Zeitfragen unterwegs. Sondern einfach nur ein ehrlicher Erkunder von Hilflosigkeit. Aber das ist gerade im Moment, wo allenthalben laute Besserwisser die Szene beherrschen, eine wenn auch schmerzvolle Wohltat.

Kritik des ersten Teils

Kritik des zweiten Teils