Luk-Perceval-setzt-seine-Belgien-Trilogie-fort

Belgische Geschichte im Theater
An der falschen Front
von Eberhard Spreng

„The Sorrows of Belgium“ heißt eine über mehrere Spielzeiten am NTGent angelegte Trilogie des Regisseurs Luk Perceval. Sie thematisiert die dunklen Seiten der belgischen Geschichte. Im zweiten Teil nimmt sich der Regisseur die Kollaboration mit den NS-Besetzern und die Kriegsbeteiligung an der Ostfront vor.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 12.03.2021 → Beitrag hören

Foto: Fred Debrock

Vor vielen Jahren hat der amtierende flämische Ministerpräsident Jan Jambon auf einer Tagung des Sint-Maartensfonds gesprochen, dem Veteranenverein der ehemaligen flämischen Legion, ein Freiwilligenheer, das in den 1940 Jahren an der Seite der deutschen Waffen-SS an die Ostfront zog. In der Erinnerungskultur des politisch und kulturell zerrissenen Nachbarlandes wird dieser Auftritt von wallonischen Historikern immer wieder gerne mal zitiert, um im Kampf um die Deutungshoheit über die belgische Geschichte den nationalistisch-separatistischen Flamen eine gern verdrängte Altlast vorzuhalten. Im zweiten Teil seiner Trilogie zeigt Luk Perceval diplomatisches Gespür, wenn er die aktive Kollaboration mit den deutschen Nazis in den beiden zerstrittenen Landesteilen verortet, bei Flamen und Wallonen. Und so ergänzt er ein Stück des Dramaturgen Peter van Kraaij mit anderen Texten, fügt französischsprachige Propagandareden in die flämische Familiengeschichte, mischt privates Erleben mit den politischen Posen der faschistischen Epoche, fiktive Geschichten um einen flämischen Freiwilligen mit realen Figuren der Zeitgeschichte. Einer von ihnen ist der österreichische Offizier der Waffen-SS Otto Skorzeny, der einem flämischen Pfarrer von seinen Erinnerungen erzählt.

„Also wirklich eins gegen eins, een duel, man tegen man …“

Homoerotisch aufgeladen ist dieser Dialog des selbstverliebten Offiziers, den der deutsche Schauspieler Philip Leonhard Kelz verkörpert, und des zunächst etwas steif schüchternen Priesters des Oscar Van Rompay. Ein Schauspiel männlicher Überbietungssucht performen die beiden vor den Augen neugieriger Frauen. Ein maliziös erotischer Ton liegt über der Schilderung vom Überfall der Deutschen auf andere Länder.

Der Sohn zieht für die Deutschen in den Krieg

Naives Gefallen ist in den Gesichtern der Flamen erkennbar bei den Auftritten des mephistophelischen Deutschen. Aber das faschistische Denken ist in dieser flämischen Familie längst schon angelegt. Der Vater ist Mitglied einer nationalistischen Miliz, Sohn Jef ist Freiwilliger in der flämischen Legion, die Tochter Mie ist Mitglied in einem nationalistischen Jugendverband.

„Mijn oom die pastor is die zegt dat we tot het Germaanse ras behoren, dat voor duizenden jaren heeft gezorgd voor de mooiste en beste mensen, omdat God het zo wilde…“

Immer wieder kommen die Schauspielerinnen und Schauspieler Daniel Demoustiers Kamera sehr nahe, flüstern, wie hier beim Lesen eines Feldpostbriefes, ihre Gefühle wie private Bekenntnisse den Zuschauern ins Ohr. Kontrapunkt sind chorische Bilder zum Beispiel vom stampfenden, ritualhaften Tanz in einem Meer weißer Fahnen. Nie aber findet das private Erleben, die Sorge um den Sohn an der Front, die Alltagserlebnisse im Belgien der 1940 Jahre und die nationalistische Pose und das Grölen der Parolen organisch zusammen.

„Amies flamands! Het uur van de waarheid is nabij“

Privates und politisches Erleben bleiben Widerspruch, die Folge ist eine immer größere Lähmung. Jefs Feldpost schildern erst eine ewig lange Zugfahrt durch Birkenwälder, dann die Ausbildung an der Seiten der Deutschen, dann der Angst vor den Russen und schließlich das Leiden im Schlamm. Über Luk Percevals belgischen Familienbildern fällt derweil der Theaterschnee.

„… finden dauernde Verletzungen dieser Grenze statt … la plus grande et la plus rapide victoire militaire de tous les temps est empêchée par la boue…“

Dieses Sittenbild, zu dem auch die Verfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerungsgruppe gehört, illustriert die wallonische Kollaboration in der Figur des Léon Degrelle, dem Gründer der klerikalfaschistischen Bewegung „Rex“, dem dieser zweite Teil der Trilogie den zweifelhaften Titel verdankt. Valéry Warnotte spielt den Wallonen.

Aus der Traum

Ganz am Ende, wenn der deutsche Traum vom länderübergreifenden, tausendjährigen Großreich ausgeträumt ist und der flämische Traum von der Unabhängigkeit, und wenn die Familie vergeblich auf die Rückkehr des Sohnes von der Ostfront gewartet hat, wechselt das Filmbild vom stylischen Schwarzweiss in die lakonische Farbe. Und Mie, die Tochter der flämischen Familie, stimmt schon mal die flämische Nationalhymne an, als Vorgriff auf das, was heute der Fall ist: Ein Nationalismus, der immer noch das will, was die Flamen damals schon wollten und von der Kollaboration mit den Deutschen vergeblich erhofften: Unabhängigkeit und die Trennung von den Wallonen.

Mit seiner Trilogie „Sorrows of Belgium“ will Luk Perceval dahin, wo es weh tut, will zeigen, was verdrängt wird, was Teil der belgischen Erinnerungskultur werden muss. Und er benutzt mit seiner bedrückenden, eindrücklich gespielten Inszenierung das Theater wie ein Versuchslabor für Traumaforschung und Seelenheilung.

Kritik des ersten Teils:  Black – The Sorrows of Belgium I: Kongo