Zum Tod von Jürgen Holtz
Urgestein des Engagements
von Eberhard Spreng
In Frank Castorfs Inszenierung des „Leben des Galilei“ war er noch einmal auf der Bühne der Berliner Ensembles zu erleben. Mit seinen gütig blitzenden Augen, ein greises Kind, ein Monument der deutschen Schauspielkunst. Nun ist Jürgen Holtz mit 87 Jahren gestorben.
Deutschlandfunk – Kultur Heute, 22.06.2020 → Beitrag hören
„Oh Gott, der wird doch wohl nicht Schauspieler werden?!“, soll seine Mutter ausgerufen haben, als der vierjährige Jürgen Holtz das Rumpelstilzchen mimte. Oh doch: Er wurde! Und spielte an zahlreichen Theatern im Osten und Westen Deutschlands. Und als ob es seinem Lebensweg entsprechen sollte, sehr oft genau in jenen Inszenierungen, die in sich die Schnittlinien und Verwerfungen der deutschen Geschichte trugen. Bei Benno Besson, Einar Schleef, Heiner Müller und vielen anderen.
Geboren wurde Jürgen Holtz 1932 in einfachen Verhältnissen in Berlin. Nachdem die elterliche Wohnung im Krieg von einer Fliegerbombe zerstört worden war, brachte ihn seine Mutter nach Franken, zu Leuten, die ihn stehlen schickten. Nach dem Krieg schlug sich der Zwölfjährige mittellos zurück nach Berlin durch, wo er in ein Internat für schwer Erziehbare gesteckt wurde. Dessen Direktor entließ man aufgrund seiner kommunistischen Einstellung. Zusammen mit anderen Jugendlichen protestierte Jürgen Holtz. „Ich hab mich ja dann freiwillig entschlossen, in Berlin lebend, mich in den Ostteil der Stadt zu begeben, weil mir viel Unrecht widerfahren war und auch anderen viel Unrecht widerfahren war – die wurden plötzlich verschrien in West-Berlin als Kommunisten – und ich so empört war und ich mich engagieren wollte, ganz unbedingt.“
In den 50er Jahren nahm der Berliner Protestjunge Schauspielunterricht in Weimar und Leipzig. Als „Hamlet“ erlebte er in Greifswald bei Adolf Dresen seinen schauspielerischen Durchbruch. Von dort holte ihn Heiner Müller nach Ost-Berlin an die Volksbühne. Aber viele Projekte, an denen Holtz in führenden Rollen beteiligt war, kamen bei der DDR-Führung in Verruf: 1965 Benno Bessons Inszenierung von Peter Hacks „Moritz Tassow“, die wegen „rüpelhafter Obszönität“ nach der Premiere abgesetzt wurde. Einar Schleefs und B. K. Tragelehns Skandal-Inszenierung von Strindbergs „Fräulein Julie“ am Berliner Ensemble und Heiner Müllers selbst eingerichtete Uraufführung des „Auftrags“ an der Volksbühne. Aber um Provokation ging es dem Einzelgänger, dem dickköpfigen Akteur und Theaterforscher nie. Ihm war wichtig, den Text und dessen zentrale, von allem Beiwerk befreite innere Energie auf die Bühne zu bringen.
„Ich war immer ein begeisterter Theatermensch. Ich konnte mir nie etwas anderes vorstellen als da drin leben und da drin arbeiten. Ich war nicht so einer, der dann so gierte und sagte: Jetzt musst du die Gedichte lesen, jetzt musst du den Roman lesen. Daran war ich relativ wenig interessiert merkwürdigerweise, ich war mehr an Philosophie interessiert, an solchen Sachen, an soziologischen Theorien als an dem großen Romanwerk der Welt.“
Der Philosoph als Schauspieler
Aufgrund seiner fundierten philosophischen Kenntnisse, seiner Intellektualität, galt Holtz bei weniger begabten Regisseure als schwierig. Die Großen hingegen, und mit vielen von ihnen arbeitete er schließlich, haben von seinem klugen, unbedingten Engagement nachhaltig profitiert. Für Heiner Müller, den Holtz für seinen geistigen Vater hielt, haben sich manche der eigenen Texte erst durch den Schauspieler erschlossen.
Als er für sich in der DDR keine Perspektive mehr sah, nutzte Holtz 1983 ein Familienvisum für den Wechsel in den Westen. Engagements u.a. in München, Frankfurt, Bochum, Zürich schlossen sich an. Nach dem Fall der Mauer arbeitete Jürgen Holtz auch wieder in Berlin. Die Fernsehserie Motzki, in der er einen Frührentner aus dem Westberliner Wedding gab, war 1993 ein Meilenstein der Fernsehgeschichte in den deutsch-deutschen Wendejahren.
– Motzki: In Berlin werden fast alle Autos von Polen geklaut.
– Edith: Das ist ja grausam, alle Autos werden gestohlen? Das hat’s bei uns früher nicht gegeben.
– Motzki: Bei euch hat’s ja auch keine Autos gegeben. Aber jetzt gibt es Autos, also auch Autodiebstähle. Dafür ist bei euch der Pferdediebstahl rückläufig.
Auch das war Holtz: Eine maliziös lächelnde Ikone
Ebenfalls 1993 spielte Jürgen Holtz das Reinald-Goetz-Solo „Katarakt“, für das er zum Schauspieler des Jahres gekürt und mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring ausgezeichnet wurde; sein „Motzki“ brachte ihm den Grimme-Preis ein. In Peter Steins Inszenierung des „Wallenstein“ war er in einer Nebenrolle das Kraftzentrum der Aufführung, mit wie in Stein gemeißelter Rhetorik und kraftvoller und hoch differenzierter Stimmführung. Graziös und elegant waren seine Figuren nicht, eher ernste Monumente mit überraschenden Momenten eines kindlichen Entzückens. Bei Robert Wilson gab er den Peachum in Brechts „Dreigroschenoper“ und die Elisabeth I. und II. in den „Shakespeare-Sonetten“ am Berliner Ensemble. Da wurde aus dem wuchtigen, sehr physisch agierenden Schauspieler plötzlich eine maliziös lächelnde Ikone. Zeit seines langen Theaterlebens an zahlreichen Theaterhäusern in Ost und West, das ihm 2013 den Berliner Theaterpreis und im Folgejahr den Konrad-Wolf-Preis eintrug, hat der Schauspieler gegen Konventionen und Gewohnheiten angekämpft und sich im Dienst der Autoren immer vorgenommen …
„… sich selbst zum Beispiel zu nehmen und sich selber hoch zu reißen und gegen jede Beleidigung, immer wieder neue Vorschläge zu machen. Das ist die einzig mögliche Haltung für einen Künstler und (man) sollte selber Beispiele schaffen für Mobilität und für Anstand, für eine große Haltung und für Phantasie.“