Zum-Tod-des-Regisseurs-Jean-Pierre-Vincent

Foto: Eberhard Spreng

Zum Tod von Jean-Pierre Vincent
Marxist und Klassiker
von Eberhard Spreng

Er war einer der bedeutendsten Theatererneuerer der 1970 bis 1990er Jahre und bis zuletzt einer der aktivsten und beliebtesten Theaterregisseure Frankreichs. Als Leiter des Straßburger Nationaltheaters, der Comédie-Française und des Théâtre de Amandiers in Nanterre wurde er zu einem der prägendsten Köpfe des französischen Theaters der letzten Jahrzehnte.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 05.11.2020 → Beitrag hören

Seine Molière-Inszenierungen wurden gefeiert, ein legendärer „Menschenfeind“, der „Tartüff“, „George Dandin“, der „Schulde der Frauen“ oder „Les Fourberies des Scapin“, die er 1990 mit Filmstar Daniel Auteuil in der Titelrolle beim Festival in Avignon im Papstpalast inszenierte. Daneben viel diskutierte Inszenierungen von Alfred Musset, den er von romantischem Gefühlsschmonz befreite und eine große Inszenierung von Beaumarchais Theaterstück „Die Hochzeit des Figaro“. Vincent galt bis zuletzt, als er mit Molières „George Dandin“ in ganz Frankreich unterwegs war, als ein urfranzösischer Kenner des urfranzösischen Repertoires.

„Ich glaube ich bin eine etwas paradoxe Person. Man sagt, ich sei der französischste Regisseur Frankreichs, aber eigentlich bin ich der deutscheste. Meine Theaterkultur ist im Grunde eine deutsche, meine Vorstellung von Dramaturgie und mein Umgang mit den Texten. Und wenn ich Molière, Beaumarchais oder Musset gut inszenieren kann, dann weil ich den Punkt kenne, an dem ich einen archimedischen Hebel ansetze, und das ist die deutsche Dramaturgie.“

Jean-Pierre Vincent gehörte zu den Regisseuren der 68er-Generation, für die Theater ohne die Dramaturgie, dieser zutiefst deutschen Erfindung, undenkbar war. Nach dem Beginn als Schauspieler in Patrice Chéreaus Pariser Schultheatergruppe inszenierte er an der Seite des Dramaturgen Jean Jourdheuil maßgebliche Abende eines politischen, aber zugleich werktreuen Theaters. Das Theatermodell Brechts war Vorbild, das Offenlegen von Klassenverhältnissen nicht nur in der modernen Dramatik. Als Chef des Théâtre National de Strasbourg machte Vincent das Straßburger Haus zu einem führenden Zentrum innovativer Experimente. Im Kern folgte er dabei immer einer dramaturgischen Linie.

„Es gibt Stücke oder Texte, die einen das ganze Leben begleiten, die man vielleicht einmal inszeniert, oder vielleicht auch nicht und die die Arbeit an allen anderen Texten prägen. Für mich ist das „Woyzeck“! Büchner! Marieluise Fleißer, die ich nie inszeniert habe, der junge Brecht und alles, was er ausgelöst hat und mit dem ich 1968 als Regisseur angefangen habe. Nun, ich meine diese Nebenlinie außerhalb der deutschen Klassik, die mit dem „Pandämonium Germanicum“ von Lenz anfing und über Büchner und andere und für mich über das Moskau der 1920er Jahre reicht. Diese Kultur ist die geheime Quelle meiner Arbeit.“

Der Ruf seiner Straßburger Theaterarbeit reichte weit und setzte Maßstäbe. Kulturminister Jack Lang holt Jean-Pierre Vincent 1983 an die Spitze der Comédie-Française, an das ehrwürdige Nationaltheater mit seinem als verstaubt traditionalistisch verschrienen Ensemble. Dort rang Vincent mit dessen Spieltraditionen.

„Eine Krankheit des traditionellen französischen Theaters ist diese merkwürdige, oberflächliche Eloquenz, die es in Deutschland aufgrund der sprachlichen Struktur nicht gibt. Das Deutsche lässt sich viel besser auseinandernehmen und erst im Verlauf des Satzes erfinden. Kein Wunder, dass ein deutscher Schauspieler eins nach dem anderen entwickelt, während sein französischer Kollege wie im wilden Galopp durch den Satz hetzt.“

Arbeit am Text (Foto: Eberhard Spreng)

Jean-Pierre Vincent erneuerte seinen Vertrag am Traditionshaus nicht, inszenierte als freier Regisseur unter anderem Thomas Bernhards „Theatermacher“ und legte den in deutschen Inszenierungen verdeckten, burlesken Kern der Komödie frei. Am Théâtre des Amandiers in Nanterre, dessen Leitung er wenig später für elf Jahre übernahm, inszenierte er im Rahmen des Pariser Herbstfestivals Büchners „Woyzeck“ mit Daniel Auteuil in der Hauptrolle. An seine Straßburger Theaterexperimente knüpfte er mit der Stückentwicklung „Karl Marx – Théâtre inédit“ an. Er blieb auch wenn die Regiemoden um ihn herum sich änderten immer eine ästhetische und dramaturgische Instanz. So unterrichtete er auch in mehreren französischen Schauspielschulen. Und trotz strenger Arbeit am Text blieb er immer offen für das befreiende, erkenntnisstiftende Lachen.

„Das liegt daran, dass ich als Komiker angefangen habe und dieser im Grunde immer geblieben bin. Manche halten mich für ernst, ja unfreundlich. Aber im Grunde bin ich der kleine Junge geblieben, der in der Schule den Spaßvogel machte und sehr begabt war, andere zum Lachen zu bringen. Das ist meine DNA – es muss Spaß machen.“