Wajdi-Mouawad-setzt-mit Mere-seine-autobiographische-Reihe-fort

Uraufführung in Paris
Mouawads zweite Mutter ist der Krieg im Libanon
von Eberhard Spreng

Der frankolibanesische Autor und Theaterregisseur Wajdi Mouawad ist unter Beschuss der feministischen Aktionsgruppe #MeTooThéâtre. Die demonstrierte am Premierenabend vor dem Théâtre National de la Colline. Drinnen wurde dann Mouawads sehr persönliches, autobiografisches Stück „Mère“ uraufgeführt.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 20.11.2021 → Beitrag hören

Foto: Eberhard Spreng

„Cantat ist ein Mörder und Mouawad sein Komplize“, rufen junge Frauen vor dem Théâtre de la Colline. Sie versuchen, umringt von Polizeikräften, viele noch vor dem Theater wartende Zuschauerinnen und Zuschauer am Hereingehen zu hindern. Später legen sie sich auf das Pflaster und protestieren so gegen Frauenmorde. Aber auch aus einem anderen Grund hätte die dann verspätet beginnende Aufführung möglicherweise abgesagt werden müssen. Auch innerhalb der Belegschaft des Theaters ist Cantats Engagement als Komponist umstritten. Es herrscht ein Gegerationendissens um die Frage der Kunstfreiheit im Umgang mit dem Thema. Mit dem, was der Poet und Regisseur Mouawad dann aber auf der Bühne aufführte, hat er zumindest sein Publikum überzeugt. Denn seine biografisch motivierte, höchst persönliche, in die intimen Tiefenschichten seiner Psychologie führende Arbeit trägt keinerlei Spuren von Provokation gegen den woken neofeministischen Aktivismus.

– „Madame Monsieur, Bon soir !
– Eh, bon Soir…
– … au Liban l’armée israélienne poursuit ses raids dans les sud du pays.“

Eine Exilantin im Dialog mit den Abendnachrichten. Es ist Aïda Sabra als Mutter der Familie Mouawad, die hier gebannt die Meldungen aus dem libanesischen Bürgerkrieg verfolgt. Sie werden von der Fersehjournalistin Christine Ockrent verlesen. Die ist, Jahre nach ihrer Aktivität bei verschiedenen französischen Fernsehanstalten, auf der Bühne umringt von Teilen der Mouawadfamilie im Pariser Exil der 1970er Jahre. Die Mutter, die ältere Tochter und der hier zehnjährige Wajdi waren aus dem Libanon geflohen und warten in einem Appartement des 15. Arrondissements in Paris auf eine Verbesserung der Lage. In ein paar Wochen können sie zurück, davon ist die Mutter überzeugt. Aus den Wochen werden Monate, schließlich Jahre. Durch die oft gestörten Telephonleitungen kommen Todesmeldungen von Angehörigen, aus dem Fernsehen kommen Bilder der Zerstörung des Beiruter Viertels der Familie, aus dem Off kommt Bertrand Cantats Kriegssoundtrack.

Trotz alledem soll der kleine Wajdi Französisch lernen und seine immerfort gestresste, schimpfende, überforderte Mutter gestikuliert wild mit ihrem Küchenmesser, während sie versucht, ihm die Konjugation des unregelmäßigen Verbes „aller“ einzubläuen. Aïda Sabra spielt sie fast karikaturhaft überzeichnet als Matrone ohne erkennbare Spuren der Empathie, und als Frau, die am Bürgerkrieg psychisch zerbricht.

Foto: Tuong-Vi Nguyen

Wajdi Mouawad ist hier doppelt verkörpert: Ein kleiner Junge spielt ihn als Kind, er selbst spielt sich als der Autor heute, der in der Literatur und auf dem Theater nach Antworten sucht für die Qualen in seiner Lebensgeschichte.

Er findet sie in dem gebrochenen Verhältnis zu seiner früh, mit 55 Jahren, verstorbenen Mutter. Er lässt ihre Hochzeitsbilder auf die karge Stellwand in der Mitte der Bühne projizieren, Bilder ohne ein Lächeln, Bilder einer jungen Frau, die, so Mouawad, einem kommenden Leid entgegenblickt. Dann die Schlüsselszene des Abends: Während das Kind Wajdi Mouawad auf einer Couch schläft, spricht der Autor von heute, im fiktiven Dialog mit einer längst Verstorbenen.

„Mein ganzes Glück, das Theater, die Menschen die ich liebe, meine Kinder, die Freunde, das alles werde ich dem Krieg zu verdanken haben, dem Exil, und deinem Tod, denn ohne den hätte ich kein Theater machen können.“ Und mit der Geste zum schlafenden Jungen sagt Mouawad: „Sein Glück von Morgen fußt auf dem seinem Elend von Heute.“

Foto: Tuong-Vi Nguyen

Wajdi Mouawad schiebt biographische Zeitebenen ineinander, fordert von seiner Mutter im Namen des kleinen Jungen auf der Bühne Zärtlichkeit, die ihm selbst gefehlt hatte und dankt ihr als heute erfolgreicher Künstler zugleich dafür, dass sie sie ihm nicht geben konnte. Er zeigt ein zweifaches Leiden, das eigene im Dialog mit dem der Mutter. Der Autor schafft so einen seltenen, starken Moment der Versöhnung im Theater. In ihm verschränken sich zwei Dimensionen der Geschichte: Die kleine eigene des Künstlers im Exil und die große kollektive eines Libanon, der den Krieg nicht loswird.

MeTooThéâtre vor der Aufführung