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Athen-Epidauros-Festival
Ein Fluch über Generationen
von Eberhard Spreng

Als großes Geschenk empfand Wajdi Mouawad die Einladung des Athen-Epidauros-Festivals, im „Contemporary Ancients Cycle“ für das legendäre alte Theater in Epidauros einen zeitgenössischen Text zu verfassen, der zum antiken Erbe Bezug aufnimmt. Sein „Le Serment d’Europe“ kommt zur 70. Jubiläumsausgabe des Festivals zur Uraufführung. In einer der Hauptrollen: Filmstar Juliette Binoche.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 02.08.2025 → Beitrag hören

Foto: Theofilos Tsimas

Die Bühne: Ein einfaches, schwarz ausgeschlagenes Podest unterm Sternenhimmel von Epidauros, an der Seite ein paar Schultische und umgestürzte Stühle. Und eine alte Europa, die langsam die Bühne betritt: Sie möchte, dass über sie Gericht gehalten wird, aufgrund einer 75 Jahre alten Geschichte, die sie als junges Mädchen erlebt hat.

“Eighteen Children were devoured by dogs…“
“Achtzehn Kinder wurden wegen mir von Hunden zerrissen“ sagt die großartige Leora Rivlin. Sie spielt die emblematische Titelfigur, die später, als erwachsene Frau und Mutter, ihre eigenen Kinder tötet. Drei von ihnen überlebten und werden nun aufgerufen, von ihren finsteren Lebensgeschichten zu berichten und sich dem verdrängtem Trauma ihrer Mutter zu stellen, das sich unbewusst fortschreibt in ihrem Leben. Die eine ist Griechin und verlor mehrere ihrer Föten, die andere ist Kanadierin und pilgert von einer erfolglosen Therapie zur nächsten, die dritte ist Französin und ringt mit der Schuld ihres Sohnes, eines Mörders und Vergewaltigers. Filmstar Juliette Binoche spielt die verzweifelte Mutter.

Foto: Patroklos Skafidas

“Tu le monde a besoin de toi maintenant Zach…“
Da weigert sich der Sohn, seine Schuld einzugestehen und betrachtet das Verfahren gegen ihn als Verrat. In einer komplexen Dramaturgie verflicht Wajdi Mouwad in dem mehrsprachigen Stück eine zeitgenössische Fiktion mit mythologischem Material. So klingt in der mörderischen Mutter Europa unser Kontinent an und zugleich eine weibliche Entsprechung von Gott Uranos, der seine Kinder vertilgte. Im mörderischen Sohn und seiner gutmeinenden Mutter liegt ein umgekehrter Ödipus-Mythos, wo diesmal nicht der Sohn, sondern die Mutter um Aufklärung bedacht ist. So mag man die drei immer wieder in wütenden Tanz ausbrechenden Europa-Töchter als Wiedergeburten von Rachegeistern verstehen oder als Schicksalsgöttinnen, die einen blutigen Faden weiterspinnen wie einen unüberwindlichen Fluch.

Ein Leitmotiv der Aufführung sind die bellenden und knurrenden Höllenhunde, die auf den blutigen Urgrund der Menschheitsgeschichte verweisen. Wajdi Mouawads Stück fungiert in diesem griechischen Festival im „Contemporary Ancients Cycle“, in dem zeitgenössische Stücke das antike Erbe aufgreifen sollen. Und der franko-libanesische Autor tut dies, indem er die Grenzen zwischen Göttern und Menschen, zwischen Oben und Unten verwischt und den leidenden Akteurinnen und dem leidenden Akteur auch noch eine moderne Schuldfähigkeit auferlegt. Das Ergebnis ist ein dichtes und komplexes Gewebe aus Lebensgeschichten. Das Stück will mit seiner mutwilligen Fragmenthaftigkeit auch ein Zeugnis für unsere Epoche multipler Wahrheiten sein.

Wie lässt sich ein alter Fluch überwinden? Kann das Schweigen Wunden besser heilen als das Offenbaren einer verdrängten grausamen Schandtat? Die Fragen bleiben in der Schwebe. Wollte das Theater von Epidauros, das dem Gott Asklepios zugeordnet ist, seine heilende Wirkung entfalten, so ist sie diesmal nicht ganz so einfach zu haben. Wir bekommen unsere Humanität nicht getrennt von unserem völkermörderischen Erbe. Das eine lässt sich ohne das andere nicht denken. Eine Heilung ist deshalb bestenfalls von vorübergehender Dauer. Den ergreifendsten Moment in diesem Spannungsfeld liefert Juliette Binoches Entschuldungsrede an die Mördermutter Europa:

“Il n’y a eu que la douceur le long de ce chemin …”
Da idealisiert sie einen Weg in dunkler Nacht in den Armen der Mutter als eine Erfahrung unendlicher Liebe des kleinen Kindes, als einen Moment kosmischen Lichtes, das in eine dunkle Welt hineinstrahlt. Wajdi Mouawad scheut nicht die große poetische Metaphorik und nur deshalb geht sein Massaker-Stück nicht in pessimistischer Verfinsterung unter. Es ist ein gewagtes Unternehmen, denn es bietet, anders als die großen antiken Vorbilder, keine einfache kathartische Lösung. Die Botschaft: Wir alle sind Kinder eines Massakers, aber dieses Erbe kann poetische Emphase einhegen. Bei soviel Anspruch sind Momente eines übertriebenen Pathos entschuldbar. Fünftausend Zuschauerinnen und Zuschauern gefiel diese Frage nach der Liebe in Zeiten eines alten Fluches.