Uwe-Johnsons-Jahrestage-auf-der-Buehne-in-Leipzig

Romanadaption am Schauspiel Leipzig
In the Mood
von Eberhard Spreng

Uwe Johnsons vierteiliges Hauptwerk „Jahrestage“ gilt als Meilenstein der deutschen Nachkriegsliteratur. 366 Tage im Leben der Gesine Cresspahl im New York zwischen 1967 und 1968. Ein vielschichtiges Mammutwerk. Passt das aufs Theater? In Leipzig hat Anna-Sophie Mahler dies für den ersten Teil versucht. Ein zweiter Teil soll folgen.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 19.03.2023 → Beitrag hören

Foto: Rolf Arnold

Das Ensemble hat sich zu Beginn der Aufführung an der Vorderbühne auf kleine weiße Sockel gesetzt und schaut ins Publikum. Man unterhält sich über das vierteiligen Mammutwerk. Johnsons „Jahrestage“ auf der Bühne, wie soll das gehen? Das Theater beginnt also mit einem entschuldigenden Vorwort, einer Art Disclaimer. Aber dieses Vorspiel macht gleich auch Lektüremomente kenntlich, aus denen die Theaterleute ihre Kernthemen gewinnen.

„Ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewusst hat. Solche Sätze kommen mir dann aus den ‚Jahrestagen’ in Erinnerung.“

Nach dieser Einführung ist natürlich klar, dass die abendfein gekleideten Damen und Herren hier nicht die Figuren aus Johnsons Roman spielen werden, sondern als Performer immer auch neben Figuren wie Gesine Cresspahl, ihrer Mutter Lisbeth und ihrer Tochter Marie stehen, außerhalb ihres Leidens und Wollens. Schnell mischen sich Musiker unter die Akteurinnen und Akteure und schaffen mit einem eleganten urbanen Blues einen herrlich melancholischen Mood. Wir sind im New York des Jahres 1967: Der Vietnamkrieg mobilisiert die Jugend zu Protestbewegungen, vom alltägliche Rassismus ist die Rede und anderen Neuigkeiten, über die die New York Times täglich berichtet.

– “Eine New York Times, bitte.
– 10 Cent.
– Sie kommt an allen Arbeitstagen um zehn Minuten nach acht aus der 96. Straße. Sie kauft keine andere Zeitung als die New York Times.“

Uwe Johnson hatte in seiner Verflechtung von Realitäts-, Erinnerungs- und Reflexionsebenen stetige Zitate der Tageszeitung in Gesine Cresspahl Erinnerungsstrom eingeschoben und so die großen Weltzustände mit der kleinen individuellen Gedankenwelt verknüpft. Mensch und Epoche sind als Paar fest verbunden. In der Gegenwart. Und in der Geschichte? Gesine Cresspahls erzählt ihrer Tochter Marie von der Mecklenburger Honoratiorenprovinz, in der die Nazis Fuß fassen. Es geht ihr um eine möglichst genaue Erinnerungsarbeit. Bewusstseinschärfung soll die Wiederholung der Gräuel der Nazizeit verhindern und zugleich sensibilisieren für die Unterdrückung im Amerika der Rassenunruhen und des Vietnamkrieges. Permanente Selbstbeobachtung ist Teil des pädagogischen Projektes.

– „Manchmal bin ich so müde, dass ich genauso unordentlich rede wie ich denke. Ich finde das nicht ordentlich wie ich denke. Und ich trau dem nicht was ich weiß.
– Look at all the lonely people.

Mit geradezu pedantischer, ja fast bürokratischer Sprache versuchte Johnson das Problem der notorischen Unschärfe in der menschlichen Erinnerung kenntlich zu machen. Warum nur wird aus der Komplexität der Ereignisse eine simple Geschichte? Johnsons Metaroman arbeitet gegen diesen Mechanismus im menschlichen Gehirn. Aber das Theater? Es kann kaum bebildern, wie da eine Erzählung sich selbst misstrauisch überwacht. Es ist halt immer Anwesenheit von Menschen und Abwesenheit von Welt. Anna-Sophie Mahler lässt die Erzählebenen in einer elegant arrangierten Auftrittsfolge ineinander fließen, setzt viele musikalische Akzente: Die Beatles stehen für die Gegenwart der 1960er Jahre, Bachs Goldbergvariationen stehen für die Mecklenburgische Erinnerungslandschaft. Johnson mochte beide Musikrichtungen. In der durchgängig überzeugenden Ensembleleistung entsteht ein Johnson-Oratorium mit erheblichem Schauwert: Die weiß verhängte Bühne erstrahlt in wechselnden Farben, weiße Quader unterschiedlicher Höhe dienen als Sitzgelegenheiten oder markieren Hochhauslandschaften. Ein Gestrüpp aus Scheinwerfern und Kabeln hängt dekorativ vom Bühnenhimmel herab. Die ersten 132 Tagebucheinträge des ersten Jahrestageromans als eine angenehme, gekonnt arrangierte Show. Durchpulst von Musik. Auch dieses Theater macht mit Literatur, was Theater immer mit Literatur macht. Es beschränkt sich auf Schlüsselszenen mit emotionaler Aufladung. Aus Wahrnehmung wird Gefühl, und nun wird auf dem Theater aus dem Gefühl ein Klischee mit Schauwert. Aber Anna-Sophie Mahler weiß, was sie tut: Das letzte, was wir sehen, ist eine Diskokugel über menschenleerer Bühne, mit umherhuschenden, glitzernden Lichtreflexen auf den Wänden und beruhigendem, flächigem Sound. Wer eine Literaturadaption so beendet, glaubt mit dem Mut zur Vereinfachung fest daran, dass sich alles Leben letztlich in Musik auflösen lässt.