Urauffuehrung-trotz-Corona-Nachts-im-Ozean-von-Michel-Decar

Uraufführung trotz Aufführungsverbot
Tief wie der Boden des Hotel-Swimmingpools
von Eberhard Spreng

Immer mehr wird dieser zweite, verlängerte Lockdown für die Theater zur Belastungsprobe. Ständig müssen Premieren abgesagt werden. Das Anhaltische Theater führt trotzdem eine Uraufführung durch: Michel Decars „Nachts im Ozean“. Der Autor inszeniert erstmalig selbst. Im Minipublikum sind nur Profis: Stückbeteiligte und Kritiker.

Deutschlandlandfunk, Kultur Heute – 27.11.2020 → Beitrag hören

Foto: Anhaltisches Theater

Man blickt von der Bühne in den leeren Saal des gewaltigen Anhaltischen Theaters. Das kleine, nur aus Kritikern und Produktionsbeteiligten bestehende Publikum sitzt auf der Hinterbühne und blickt auf ein Großaufgebot an von blütenweißen Tüchern verhängen Figuren. Und dann streifen drei schwarz verhüllte Gestalten zwischen den Raumkörpern umher, und das sieht ein wenig so aus, als habe sich Belphegor in dreifacher Ausfertigung aus dem Louvre ins Theater verirrt. Zumal die Figuren aus dem Eingangsbild im Verlauf der Aufführung, eine nach der anderen, enthüllt werden und sich als Grazien, Madonnen, Torso, Büsten auf Säulchen und Löwenskulpturen entpuppen, so als wäre der Schauplatz das Depot eines Museums insbesondere der Antike. Was aber dann erzählt wird, und zwar in einer Folge von drei langen Monologen, führt in die Gegenwart des globalen Kulturbetriebs.

„Alles begann mit einem Anruf aus Montevideo. Nestor Cáceres, der Direktor des Teatro Nacional, ein gleichermaßen intelligenter wie grimmiger Mann, war am Apparat, und bat mich, ein Theaterstück über den Untergang der Admiral Graf Spee im Río de la Plata zu schreiben.“

Niklas Herzberg windet sich, verklemmt selbstgefällig, in seinem schwarzen Satinanzug, wenn er von der Reise des noch jungen Dramatikers Moskowitz nach Montevideo erzählt, von seiner Ankunft im Hotel und seinem Spaziergang in Richtung auf das Teatro Nacional, in dem am Abend die Uraufführung seines Stückes „Nachts im Ozean“ stattfinden soll. Beunruhigend ist allerdings, dass er an der im vorangegangenen Mailverkehr abgegebenen, ebenso wenig wie an der in Googlemaps verzeichneten Adresse das Teatro Nacional vorfindet. Moskowitz ist dabei, aus dem wirklichen Leben in ein Paralleluniversum abzugleiten.

Im zweiten Monolog wird Moskowitz von Nightingale beschattet, die Laura Eichten – auch in schwarzer Satinkleidung – spielt. Sie sieht in ihm einen gefürchteten Geschäftemacher, der in illegale Rohstoff-, Waffen-, Immobiliengeschäfte und Raubkunstdeals verwickelt ist und dabei als Tarnung Kulturveranstaltungen des Goetheinstituts benutzt.

„Ich folgte Moskowitz mal in Sichtweite, mal mit langer Leine im Abstand von siebzig, achtzig Metern. Immer wieder öffnete er Googlemaps und navigierte in Richtung Süden, als würde er auf etwas zusteuern, als hätte er ein geheimes Ziel.“

Im letzten der drei Monologe erklärt der Direktor der Teatro Nacional, Nestor Cáceres, verkörpert von Roman Weltziehn, seine Version der Ereignisse und auch diese sind nur in Bruchstücken und flüchtigen Momentaufnahmen mit denen der anderen Figuren kompatibel. Die behauptete Premiere hat vielleicht gar nicht stattgefunden und er ist vielleicht auch gar nicht der Director des Nacional. Und dann ist da ja auch noch ein mysteriöser Mann aus Abu Dhabi namens Al-Thani, von dem immer wieder mal die Rede ist.

Michel Decar entwirft drei Wahrnehmungswelten, in denen so etwas wie eine Wirklichkeit, auf die sich die drei Figuren und mit ihnen das Publikum einigen könnten, nicht existiert. Es entsteht eine Traumwelt aus Sinneseindrücken und Projektionen, ein Surrealismus, bei der jede der drei Erzählungen völlig realistische Ereignisse, Wahrnehmungen und Gefühlselemente schildert.

„Sehen sie die Frau dort vorn, sagte ich und zeigte auf das andere Ende der Bar. Schauen sie in ihre Augen, sagte ich zu dem Kurator, der sich nun umdrehte. Ich habe diese Augen vor einigem Monaten zum ersten Male gesehen und kann mich seitdem nicht mehr dagegen wehren.“

Versuchsanordnungen wie dieser doch sehr prosaische Theatertext, in denen der Autor seine Gestalten wie Figuren wie auf dem Schachbrett bewegt und willkürlich in Situationen seiner Phantasie schickt, sind auf der Bühne immer dann interessant, wenn sich die Figuren plötzlich gegen das Schicksal wenden, das ihnen der allmächtige Autor auferlegt. Wenn der Deal nicht aufgeht und sich die Wirklichkeit der Figuren gegen die Fiktion der Geschichte stellt. Das passiert in Decars „Nachts im Ozean“ nicht, allein schon, weil das metaphorisch auf die Welt der Museen verweisende Bühnenbild ins diffus Symbolische führt. So wird aus dem Spiel Spielerei. Und doch schlägt etwas aus der Motivwelt des Stücks in die Wahrnehmung dieses Abend am Anhaltischen Theater. Wenn man aus dem leeren Theater ins ausgestorbene abendliche Dessau heraustritt, ist man nicht ganz sicher, ob hier gerade, genau wie in Montevideo, eine Uraufführung stattgefunden hat.