Oedipus am Deutschen Theater
Ermittlungen im galaktischen Raum
von Eberhard Spreng
Sophokles’ antike Tragödie „Oedipus“ scheint mit seiner Frage nach Schuld, Verantwortung, Politik und Umweltkatastrophe ein Stück der Stunde. Am Deutschen Theater inszeniert dies Ulrich Rasche als bild- und klangmächtiges Gesamtkunstwerk.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 29.08.2021 → Beitrag hören
In den letzten Jahren hat Ulrich Rasche immer wieder gerne auf gewaltigen Gerüstbauten chorisch gesprochene, unheimlich vor sich hin treibende Texte inszeniert, so als gelte es, in der Maschinenhalle der Moderne die bösen Geister des Totalitarismus aufzurufen und theatral zu bannen. Auf die Rundbühne des Deutschen Theaters passen solch himmelwärts ragenden Spielflächen eher nicht. Für den Oedipus hat der Regisseur und Bühnenbildner das Geschehen in einen schwebend unwirklichen Sphärenraum verlegt. Irgendwie spacy wirkt der gigantische Leuchtring über Köpfen der Akteurinnen und Akteure, später kommt ein zweiter hinzu, ein dritter und schließlich ein vierter. Orionnebel, Saturnringe, bombastische Heiligenscheine, ein landendes Ufo: Man mag allerlei assoziieren zu diesen bildmächtigen, langsam die Farben wechselnden Phänomen über in sanftem Bühnenebel gehüllten Gestalten. Alles führt in eine kosmische Entwirklichung des Geschehens: Oedipus und seine unter Pest und Plagen leidende thebanische Gesellschaft haben ein Problem mit den Göttern und das wird nicht auf der Erde ausgetragen sondern im Irgendwo schwebenden Raum.
„Denn alles werd ich tun, entweder glücklich
Erscheinen mit dem Gott wir oder stürzen.“
Manuel Harder spielt, spricht den Oedipus, der sich am Anfang nur langsam aus dem dichten Gruppenbild der Thebaner gelöst hatte und nun auf der Vorderbühne Aufklärung verspricht für einen Mord, dessen Fluch, dem Götterspruch zufolge, Unheil über Theben gebracht hat. Wie immer auf der ganz langsam kreisenden Drehbühne mit beständigen Seitwärtsschritten unterwegs, scheinen alle Akteurinnen und Akteure für den Zuschauer zugleich in Bewegung und im Stillstand, wie Peripatetiker, die nicht im Umherwandeln ihr Denken entwickeln, sondern im Balancieren auf bewegtem Grund. Klar, dass dies in Verbindung mit dem pausenlos pulsierenden Soundtrack der vier Musiker und dem langsam und unheimlich vor sich hin treibenden Sprechen eine meditative Grundstimmung hervorruft. Eine der dramatischen Höhepunkte ist der Streit des um Aufklärung ringenden, noch ahnungslosen Oedipus mit einem Theireisias, der sein Wissen um die Schande des Herrscherhauses gerne für sich behielte. Kathleen Mergeneyer spielt ihn mit geschmeidigen Bewegungen wie ein gefährliches, in die Enge getriebenes Raubtier.
„Bekannt wird er sein, bei seinen Kindern wohnend
Als Bruder und als Vater und vom Weib, das ihn
Gebar, Sohn und Gemahl, in einem Bette mit
Dem Vater und sein Mörder.“
Bei Sophokles folgt auf die düstere Botschaft des Sehers ein für die antike Dramatik geradezu aufregend flott erzähltes Kriminalverfahren, bei dem Chefermittler Oedipus einen Zeugen nach dem anderen in die Zange nimmt, bis am Ende das herauskommt, was jeder Grieche im antiken Athen schon vor der Aufführung wusste: Oedipus ist der Mörder, nach dem er sucht, selbst Ursache der Katastrophen, die er bekämpft. Dieses anthropologische Grundproblem wäre natürlich auch zu Zeiten von Corona und der Klimakatastrophe ein prima Motor für eine Aktualisierung: Der Mensch, tragisch verstrickt in die Folgen des eigenen Tuns. Aber Ulrich Rasche will keine einfachen Rückkopplungen von antiker Tragödie und aktueller Politik. Er erzählt den Oedipus, im ritualhaft verlangsamtem Larghissimo als Oratorium, als Gesamtkunstwerk aus Poesie, von Hell-Dunkel-Malerei inspiriertem Bildrausch und Klangraum.
„Wer ist unseliger als ich …“
Und doch haftet diesem grandiosen Kunstwerk ein theatraler Makel an: Mit seiner auf drei Stunden zerdehnten Spiellänge und seiner die Syntax sprengenden Langsamkeit wirkt jeder Moment, jeder Move, jeder Satz wie autistisch auf sich selbst bezogen und herausgelöst aus dem tragischen Wirkungszusammenhang. Es ist immer schön, aber es ist immer auch nur gerade jetzt: Ein Theater als Kunst des bewegten Stillstandes. Aber wäre das nicht auch ein Bild für unseren derzeitigen Geisteszustand?