Lateinamerika beim Festival in Avignon
„Wir Künstler sind Angestellte des Kapitals“
von Eberhard Spreng
Der Performer Tiziano Cruz stammt aus der indigenen Minderheit in der Andenregion im Norden Argentiniens. In einer autobiografisch beeinflussten Trilogie reflektiert er die Situation seiner Familie und seine Rolle als erfolgreicher Künstler. Angeregt wurde dies durch den früher Tod seiner Schwester, in der Folge einer mangelhaften medizinischen Versorgung. Zwei Teile dieser Trilogie sind neben anderen lateinamerikanischen Produktionen beim Festival in Avignon zu sehen.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 11.07.2024 → Beitrag hören
Treffpunkt Straße, nicht weit vom Bahnhof von Avignon: Das Publikum versammelt sich um eine Gruppe von sehr bunt gekleideten Menschen im Stil der traditionellen Tracht der Andenvölker Lateinamerikas. Der argentinische Künstler Tiziano Cruz hat hier in Avignon, wo kaum Lateinamerikaner mit indigenen Wurzeln leben, mit Sinti und Roma aus einer Problembanlieue der Rhonestadt geprobt. Es geht darum, Menschen aus den Randlagen der Gesellschaft für den Straßenumzug zu gewinnen, der bewusst folkloristisch daherkommt. Das Publikum folgt dem Umzug, bis er in einem nahe gelegenen Park vor einer gotischen Kircheruine zum Stillstand kommt. Hier ergreift der Künstler aus der indigenen Minderheit der Aymara das Wort:
„Ich habe immer am Rand gelebt, an der geografischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Peripherie der Welt. Aber in dieser Randlage sorgen wir als billige Arbeitskraft für den Erhalt der ökonomischen Machtverhältnisse im Weltmarkt. Nur das ist es, was der globale Süden für die Welt darstellt.“
Soweit, so gut und wohl bekannt. Standardargumente im emanzipatorischen Diskurs des globalen Südens. Nachdem Tiziano Cruz auf der Straße die Brandrede seines indigenen Kollektivs an die Welt vorgebracht hatte, geht es im Saal um etwas anderes. Sein sehr persönlicher Monolog steigert sich zur Selbstanklage des Künstlers, der sich aus seiner sozialen Randlage in die Zentren des etablierten Kulturbetriebs vorgekämpft hat.
„Ich entschuldige mich dafür, dass meine künstlerischen und philosophischen Bezugspunkte eurozentrisch sind. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich mich an den Markt der Kultur verkaufe.“
In einer klugen, mit poetischer Metaphorik angereicherten Rede untersucht der queere Tiziano Cruz die Rolle des indigenen Künstlers, seines Körpers unter den Blicken eines weißen argentinischen und internationalen Publikums.
„Als Künstler haben wir uns zur Aufgabe gemacht, das öffentliche zu einer privaten Sache zu machen. Wir Künstler haben dazu beigetragen, eine hegemoniale Macht zu festigen, wir waren, sind und bleiben Angestellte des Kapitals.“
Solche Worte rütteln auf, in einem Festival, das Künstlerinnen und Künstler als Horte der tieferen Einsicht ehrt und das sich als intellektuelles Jahrestreffen emanzipatorischer Diskurse versteht. Tiziano Cruz’ „Soliloquio“, seine Rede an die Welt und an die Familie, ist der zweite Teil einer Trilogie, die er nun mit „Wayqueycuna“, in der indigenen Ketschua-Sprache etwa: „Meine Brüder“, zum Abschluss bringt. Das ist eine Reise zurück zu seinen kulturellen Wurzeln, der Versuch der Versöhnung mit seiner Herkunft, eine Rückkehr vom Individuellen ins Kollektive. Die teilt er symbolisch mit dem Publikum, indem er an den Menschen im Saal ein rituelles Gebäck der Andenregion austeilt. Abendmahl im Theater, Ritual und Poesie als Rettung. Das Ritual ist auch Fundament für die Ästhetik eines Gastspiels der Uruguayerin Tamara Cubas: „Sea of Silence“ versammelt sieben Frauen aus diversen Ländern, die ihre Familien verlassen haben.
Uraufgeführt wurde in Avignon „Los días afuera“ der argentinischen Schriftstellerin und Künstlerin Lola Arias. Für „Die Tage draußen“ hat sie sechs Cis-Frauen und Transpersonen auf der Bühne versammelt, die bis vor kurzem noch in einem argentinischen Frauengefängnis einsaßen. Das Stück versteht sich als zweiter Teil eines Diptychons, das mit einem in diesem Gefängnis gedrehten Dokumentarfilm begonnen hatte.
In der musikalischen Revue greifen die Performerinnen selbst zu den Instrumenten, setzen sich ans Schlagzeug, singen, tanzen. Sie performen eine Freiheit, die es für sie so nur auf der Bühne gibt, fernab der transphoben und frauenfeindlichen Straßenwirklichkeit des nach rechts abdriftenden Argentiniens.
Die lateinamerikanischen Produktionen bringen Lebenswelten vor Augen, die sich von denen des mehrheitlich weißen Publikums und dessen derzeitigen politischen Sorgen erheblich unterscheiden.