Tim-Etchells-inszeniert-How-goes-the-world-am-NTGent

Performance am NTGent
Kein Anschluss unter dieser Nummer
von Eberhard Spreng

Seit fast vierzig Jahren erkundet der britische Autor und Regisseur Tim Etchells, wie Darstellungen auf dem Theater und wie der Blick des Publikums funktionieren. Nun inszeniert der britische Regisseur am NTGent in der von Milo Rau initiierten Reihe „Histoire(s) du Théâtre“. Das Stück heißt „How goes the world“.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 18.11.2023 → Beitrag hören

Foto: Hugo Glendinning

Zwei Performerinnen und zwei Performer in einem aus diversem Bühnenplunder zusammengestoppelten Innenraum: In der Mitte ein Tisch mit einem alten Telephon. Dann das verrauschte Klingelgeräusch. Akteurin Aurélie Lannoy geht dran, hebt den Hörer ab und… Nichts! Da ist keiner am anderen Ende. Diese Aktion ist nur eine von mehreren immer wieder kehrende Handlungen, die allesamt von Geräuschen aus dem Off angestoßen werden.

Immer hockt eine oder einer am Klavier und mimt das Spiel mit den Tasten, während andere auf das Klopfen und Klingeln an zwei Türen reagieren, sie öffnen, aber nie jemanden vorfinden. Zwischen den Türen lehnen Teile alter Dekors an der Wand, Überreste von Theaterstücken, in denen sich die Handlungen noch zu Geschichten fügten. Hier aber eilen die Akteurinnen und Akteure durch Türen hinein und hinaus, rennen über die Teppiche, sinken kurz ins Sofa oder auf einen Stuhl, ohne dass je eine Geschichte zustande käme. Tim Etchells kollagiert das beiläufige, unwichtige Beiwerk, die Reste aus Geschichten. Das sieht ein wenig so aus, als hätte man bei einem Filmschnitt einmal alles zusammenmontiert, was der Schere sonst zum Opfer fällt, als zeigte man immer nur die Schnipsel vor und nach einer eigentlichen Szene. Nun, da die große Ordnungsmacht der Erzählung aus dem Bühnengeschehen verschwunden ist, übernimmt eine andere Logik die Herrschaft: Die der Musik. Denn Telephon, Klopfen, Klingeln, Tür-Auf, Tür-Zu und später auch Schüsse aus Pistolen, das unentwegte Getötet-Werden und wieder Aufstehen sind nun Motive einer Komposition, die sich furios steigert.

Zu erleben ist also ein Metatheater der Überreste. So als spuckte die Bühne ihre Erinnerungen als absurde Fragmente noch einmal aus. Wir erleben Beckett ohne Worte, absurdes Theater an der Kreuzung von Slapstick und bürgerlicher Tragödie. Da richtet man die Pistolen gerne auf andere und drückt ab, bis die sinnlose Wiederholung der Bewegungsspiele einen in den Selbstmord treibt. Aber auch dann steht man wieder auf und hastet weiter, den Tod gibt es nur als Erholung für Sekunden.

Und doch braucht diese Maschine einen melancholischen Kontrapunkt: Plötzlich also Stille und zaghafte Worte. Und die kommen wie aus grauer Vorzeit, als man sich auf der Bühne mit Sprache gegen das Schicksal stellen konnte, agieren durfte und nicht nur von außen getrieben wurde.

“You know, sometimes I used to stand here at this window looking down on the town watching the lights in the houses and thinking about the future.”

Dieses post-dramatische Theater stürzt sich nicht kopflos ins Performative, um gegenwärtige Seinszustände zu bebildern, sondern es betrachtet ziemlich nachdenklich und melancholisch die Fragmente, die es aus vergangenen Theaterepochen geerbt hat. Das sind hier auch Bilder der Gewalt. Atemberaubend ist, wie Neil Callaghan immer wieder von Hieben getroffen wird, Immer erschöpfter rappelt er sich wieder auf, immer wieder wird er von neuem getroffen, bevor er endlich auf dem Sofa liegen bleibt. „Theater ist brutal und magisch“ sagt Tim Etchells. Der britische Regisseur lenkt sein grandioses Ensemble mit mathematisch anmutender Präzision über die Bühne und in ein merkwürdig privates Ende: Zahllose Kostüme werden vorgeführt. Die Frauen bekommen dicke Bäuche, Babys aus Stoffbündeln werden getragen, Wäsche wird gebügelt, ein alter Staubsauger tritt in Aktion. Die Dekomposition der Geschichten endet nun doch auch wieder in der Skizze einer neuen Menschheitserzählung.

Etchells Untersuchung dessen, was das Theater in seinem materiellen Kern ausmacht, ist der fünfte Teil der am NTGent initiierte Reihe „Histoire(s) du Théâtre“, die in exemplarischen Aufführungen erkunden will, wo das Theater der Avantgarde heute steht. Sie begann mit Milo Raus Frage, wie die Bühne eine reale Gewalterfahrung überhaupt in theatrales Geschehen übersetzen kann. Sie kommt nun bei der Frage an, ob das Theater dem Zwang zum Geschichtenerzählen und der Sinnproduktion entkommen kann. „Für Augenblicke schon“ lautet die Bilanz beim Betrachten von „How goes the world“, aber eben auch nur für Augenblicke.