Tiago Rodrigues inszeniert sein neues Stück Hecube, pas Hecube

Die ersten Tage beim Festival in Avignon
Innere und äußere Brüche
von Eberhard Spreng

Festivalchef Tiago Rodrigues inszeniert im Steinbruch bei Boulbon die Uraufführung seines neuen Stücks „Hécube, pas Hécube“. Der portugiesische Autor und Regisseur hat das mit dem Ensemble der berühmten Comédie-Française erarbeitet. In den politisch hoch aufgeladenen Tagen zwischen den beiden Runden der Parlamentwahlen muss er als Festivalchef allerdings auch für die Wahrung der emanzipatorischen und demokratischen Tugenden sorgen, für die das Festival steht.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 03.07.2024 → Beitrag hören

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Zwei Mütter kämpfen für ihre Söhne. Die eine fiel vor mehreren Tausenden von Jahren als Kriegsbeute des Trojanischen Krieges dem Feldherr Agamemnon zu und kämpft um Rache für den feigen Mord an einem ihrer Söhne. Die andere ist Mutter eines autistischen Jugendlichen, der in einer Pflegeeinrichtung misshandelt worden ist und die nun eine Klage anstrengt. Die eine heißt Hekabe, ist eine exemplarische Leidensfigur der griechischen Mythologie und Titelfigur in einem Stück des Euripides. Die andere ist Schauspielerin im Ensemble der Comédie-Française und soll die antike Figur verkörpern. Wegen ihrer privaten Sorgen ist sie gestresst und abwesend bei der ersten Leseprobe am langen Tisch, der im wilden staubigen Steinbruch bei Boulbon aufgestellt ist. Festivalleiter Tiago Rodrigues erkundet in seinem neuen Stück, wie der Kampf um Gerechtigkeit in der Tragödie und wie er im realen Leben verläuft, wie sich Gefühlswelten in der Seele der Schauspielerin durchdringen und überlagern.

„Je suis prête des mois, des années, peu importe. Je suis prête à aboyer, aboyer, aboyer pour le reste de ma vie s’il le faut“

Elsa Lepoivre spielt sehr überzeugend die Mutter, die aus der Arbeit am Theater letztlich Kraft für ihren Kampf mit dem Staatsapparat schöpft, der die Pflegeeinrichtung kontrollieren muss und sie schöpft aus dieser Erfahrung Ideen für die Arbeit an der Rolle. Ihren Gesprächspartner in beiden Fällen, das heißt Agamemnon und den Staatsbeamten, spielt Starschauspieler Denis Podalydès. Auch bei den Nebenfiguren ist die Aufführung brillant besetzt. Sie markiert durch rasche Wechsel der Lichtstimmung den Wechsel der Erzählebene. Das ist klug inszeniert und lässt doch auch ein wenig kalt. Denn der Stücktext spielt etwas vorhersagbar die Durchdringung von Fiktion und Wirklichkeit, Theater und Leben durch. Nach der Uraufführung trat der Regisseur und Festivaldirektor Tiago Rodrigues vors Publikum, mit einer Ankündigung in politisch schweren Zeiten.

„Es besteht jetzt die reale Gefahr einer rechtsextremen Regierung. Deshalb initiiert das Festival in dieser Woche die „Nacht von Avignon“, mit Kunst und Debatten. Eine Nacht der Mobilisierung und des Nachdenkens. Als populäres, demokratisches, republikanisches, und also progressives, antirassistisches, feministisches und ökologisches Festival ist das unsere Pflicht. Damit es in der Nacht des 7. Juli nicht zum Festival der Résistance werden muss, sondern die Republik feiern kann.“

Schon zuvor hatte Rodrigues angekündigt, die Theaterschau werde im Fall einer Rassemblement National Regierung in die Résistance, den Widerstand gehen. Avignon erlebt in den ersten Festivaltagen eine äußere, politische, aber auch eine interne Konfrontation. Denn die Kritikerbeschimpfung während der Eröffnungsinszenierung durch Angelica Liddell vor zweitausend Menschen im Publikum hat ein Nachspiel. Insbesondere hat Lidell den Journalisten Stéphane Capron beleidigt. Der klagt nun gegen die spanische Performerin wegen öffentlicher Beleidigung. Aber Liddell legte beim Publikumsgespräch nach:

„Den Hass auf die Kritiker teile ich absolut. Denn die Kunst ist Sache der Künstler. Punkt! Kritiker sind eine vorsintflutliche, archaische Sache und gelegentlich ein großer Schaden für die Kunst. Und alle diese Kritiker vereint eine ranzige überholte Denkweise.“

Die schöne Geschlossenheit, die die Kulturszene von Künstlerinnen und Künstler übers Publikum zu Kulturmedien in Avignon in Zeiten der Gefahr gerne demonstriert und derzeit gut brauchen könnte, ist gestört. Heilsam sind bei diesem Gegenwartsschmerz zwei weitere Uraufführungen: Der Argentinier Mariano Pensotti erkundet in seinem Stück „Une Ombre Vorace“ erneut, wie die Geschichte sich in die Gegenwart einmischt. Er zeigt in einem kleinen Duo, das in den nächsten Tagen über die Dörfer in der Umgebung von Avignon tourt, dass nichts je wirklich vergangen ist und auch der Tod kein definitiven Ende darstellt.

Christophe Raynaud de Lage

Und dann gab es einer Cervantes–Bearbeitung „Quichotte“ auch noch eine herrlich kindliche Jeanne Balibar zu erleben, die mit Papprüstung und Holzlanze in eine imaginäre Welt hinauszieht.

„Si pour la punition de mes pêchés ou plutôt par une faveur de ma bonne étoile … “

War die große Actrice bei Frank Castorf immer wieder die kämpferische Heroine, so ist sie hier eine poetisch verträumte Ritterin von der traurigen Gestalt, die uns vor Augen führt, dass unsere Bilder und Vorstellungen unser Himmelreich sein können und unsere Hölle.