Tiago-Rodrigues-eroeffnet-Festival-in-Avignon-mit-Kirschgarten

Das 75. Festival d’Avignon hat begonnen
Die Versammlung der Stühle
von Eberhard Spreng

Tiago Rodrigues heißt der künftige Direktor des Festival d’Avignon ab 2022. Er ist auch der Regisseur der Eröffnungsinszenierung: „La Cerisaie“, Tschechows letztem Stück über das Ende einer Epoche und ein überschuldetes Landgut in der Provinz Russlands. Zu sehen war am ersten Tag aber auch Christiane Jatahys Theaterversion von Lars von Triers „Dogville“ mit dem Titel: „Entre Chien et Loup“.

Deutschlandfunk Kultur Heute – 06.07.2021 → Beitrag hören
Deutschlandfunk Kultur, Fazit – 05.07.2021 → Gespräch hören

Der künftige Festivaldirektor Tiago Rodrigues inszeniert den „Kirschgarten“ (Foto: Christophe Raynaud de Lage/Festival d’Avignon

Als gestern das Saallicht im Papstpalast langsam erlosch, applaudierte das Publikum begeistert der noch menschleeren Bühne. Glücklich über das Ende der Lockdowns, begrüßte es die Rückkehr des Theaters. Ein wenig mögen das aber auch Vorschusslorbeeren für einen Theatermann gewesen sein, den Kulturministerin Roselyne Bachelot am Vormittag zum künftigen Direktor der Sommertheaterschau ernannt hatte. Tiago Rodrigues, derzeit Direktor des Lissabonner Teatro Nacional Dona Maria II, wird ab September 2022 für zunächst vier Jahre Direktor des Festival d’Avignon. Er ist der erste Nicht-Franzose an der Spitze der großen französischen Kulturschau und das wird hier auch in seiner symbolischen Bedeutung gewertet. Tiago Rodrigues hatte genau das auch im Kopf, als er sich mit folgenden Worte bedankte:

„Ich bin wirklich sehr glücklich über die Ernennung zum künftigen Direktor des Festival d’Avignon, das ich für das weltweit schönste Festival halte. Ich möchte aber auch Frankreich danken, ein Land der Willkommenskultur, ein diverses und offenes Land, das so viele Exilanten aufnahm und so viele Portugiesen, wie einst meinen Vater, der der Diktatur in Portugal entkam. Vielen Dank also für ihr Vertrauen in meinen Beitrag zu der Utopie, die das Festival d’Avignon darstellt.“

Nach zwei Gastspielen in den letzten Jahren inszeniert Tiago Rodrigues nun also zur Eröffnung des vorletzten von Olivier Py verantworteten Festival d’Avignon Tschechows „Kirschgarten“ mit einem französischsprachigem Ensemble.

Noch bevor das erste Wort fällt, schauen sich für ein paar stille Momente zwei Welten an: Auf den Rängen sitzt das Festivalpublikum auf frisch installierten neuen Klappsitzen; auf der Bühne stehen circa hundert der ehemaligen, demontierten Papstpalastsitze, die nun ihren Zweck verloren haben. Zweieinhalb Stunden lang wird man sie umräumen, zu einen Stuhlberg aufschichten und endlich an der Seitenbühne aufstapeln, um Platz für einen leeren, freien Raum zu machen. Tschechows Kirschgarten, der, da einem überschuldeten alten, einst feudalen russischen Landgut zugehörig, verkauft und abgeholzt wird: Das sind wir selbst, oder zumindest unsere Sitzgelegenheiten vergangener Festivaljahre. Symbolischer konnte Tiago Rodrigues das 75. Festival nicht als Zeitmarke kenntlich machen.

Im Ensemble, das hier eine moderne, E-Gitarrensound und Perkussionsbetriebene, quasi pulsende und groovenden Zeitenwendegesellschaft mit erstaunlicher Verve und Vitalität verkörpert, sind vier schwarze Akteurinnen und Akteure. Isabelle Huppert spielt die Gutsherrin als gerade aus Paris zurückgekehrtes Fabelwesen, halb Hippie halb durchgeknallte Borderlinerin:

„Ah, cette joie, ah ma petite armoire à moi, ah ma petite table… „

Foto: Christophe Raynaud deLage/Festival-d’Avignon

Anders als in früheren Inszenierungen, in denen ein merkwürdig nostalgisches Bedauern über den Untergang einer schönen alten Welt mitschwang, will Rodrigues hier Tschechows innovationsfreudige Seite herausstellen. Die wird vertreten durch den Kaufmann Lopachin, der bekanntermaßen der hoch verschuldeten Gutsherrin Ranjewskaja rät, den Kirschgarten zu verkaufen und das Gelände in eine kleinbürgerliche Datschenoase zu parzellieren Dieser Lopachin durch den aus dem Senegal stammenden Adama Diop verkörpert. Das bedeutet eine Ethnisierung der russische Ständegesellschaft in Tschechows letztem Stück, ganz im Sinne aktueller Debatten. Nachdem er den Kirschgarten ersteigerte, feiert dieser Lopachin stolz und herrisch das Eigentum eines Ortes, an dem seine Vorfahren als rechtlose Sklaven dienten.

„Mon Dieu, Seigneur, la cérisaie est à moi ! Ne vous moquez pas de moi ! Si mon père et mon grand-père se levaient de leur tombe… qui courraient pied-nus en plaine hiver… j’ai acheté de domaine où mon père et mon grand-père étaient esclaves.“

Foto: Christophe Raynaud de Lage/Festival-d’Avignon

Dieser mit heutigen Rassismusdebatten kompatible Kirschgarten ist nicht die einzige Aktualisierungsanstrengung des ersten Tages in Avignon. Die aus Brasilien stammende Christiane Jatahy bürstet Lars von Triers genialischen Film „Dogville“ vom moralischen Lehrstück zum aktuellen Fluchtdrama um, das in der brasilianischen Bolsonaro-Diktatur seinen Ursprung hat. Von dort kommt, wie einst die Grace im Film, die Graça im Theater als Flüchtende in eine verschworene Gemeinschaft.

„Bon je suis arrivé ici parce-que je pouvais plus rester dans mon pays. Je n’ai pas de famille. J’ai juste mon père mais il a été pris par la police. C’est une armée de bandit, de gens corrompus, de tueurs.“

Foto: Magali Dougados

Lars von Triers Film hatte jeden Naturalismus abgestreift, auf Dekors verzichtet und die kleinen Häuser der Dorfbewohner nur mit weißen Strichen auf dem schwarzen Atelierboden kenntlich gemacht. Hier kehrt das Dekor im Form einer reichen Möblierung ins Geschehen zurück. Eine große Leinwand zeigt die Handlung zwischen den Figuren in filmischen Großaufnahmen. Klug wechseln diese vom simplen Abfilmen in täuschend ähnliche Voraufzeichnungen, wird mit der Wahrnehmung des Publikums gespielt und vergangene Zeitebenen der aktuellen Zeitebene untergemischt. Sichtbar werden so die verdrängten Quellen für den wachsenden Hass der Dorfbewohner auf die zur Sklavin degradierten Graça. Es entstehen durchaus berührende und quälende Bilder des Missbrauchs.

Im Scheitern dieser Gemeinschaft am antiken Wert der Gastfreundschaft und Willkommenskultur sollen wir uns selbst, das Europa in der Flüchtlingskrise, wieder erkennen. Jatahy löst also Lars von Triers universelle Fabel vom Scheitern der Werte aus ihrem durchaus religiösen Kontext, tilgt ihr Ende und verkürzt sie auf zeitpolitische Gefühlszustände.

Auschnitt „Entre Chien et Loup“

Ausschnitt „La Cerisaie“