Antiken-Nachdichtung in Dresden
Auf der schiefen Ebene
von Eberhard Spreng
Für das Staatsschauspiel Dresden fasst Thomas Melle ein Stück der griechischen Antike neu: Die „Die Bakchen“ des Euripides. Regie führt Lilja Rupprecht, die bereits in den Vorjahren immer wieder Stücke des Autors inszeniert hat.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 31.10.2025 → Beitrag hören

Eine riesige Schieferplatte ragt in den Bühnenhintergrund. Eine schiefe Ebene, die für das Kithairon-Gebirge steht. Thebens Herrscherfamilie, mit ihrer Chronik zahlloser Blut- und Schreckenstaten, erlebte in diesen Bergen einige ihrer entscheidenden Episoden. Diesmal hat der junge Gott Dionysos die Frauen Thebens hierhin zu einer orgiastischen Party verführt – und das gefährdet in den Augen des Herrschers Pentheus die öffentliche Ordnung.
„Wer so maßlos tut und redet, der wird ein Unglück ernten. Wer friedfertig und sittsam lebt, dessen Haus bleibt bestehen. Kurz ist das Leben und wer allzu Fernes will, der kann nicht ernten was in seiner Nähe ist.“
Das sagt die crossgender besetzte Leonie Hämer im engen grauen Kostüm und streng nach hinten gekämmtem Haar. Ihre Herrscherfigur steht für die patriarchale Ordnung, und die hat ein Problem: Der Gesellschaft mangelt es an Nahrung, auch Kaffee ist keiner mehr da, es herrscht Endzeitstimmung. Und so fragt sich ein Teil der Bevölkerung durchaus, ob man nicht am besten in einem anarchischen Fest alle Hemmnisse hinter sich lässt. Auch der alte Kadmos, Großvater des aktuellen Herrschers, liebäugelt mit den Verlockungen des Götternewcomers Dionysos.
„Wenn das Maßhalten uns retten könnte, ich könnte mich wieder zurück an den Tisch setzen, die Rationen verkleinern, sie freundlich verteilen, so dass alle zufrieden wären, und gemeinsam in Frieden, die Langeweile genössen. Wer maßhält, produziert vielleicht keine großen Erinnerungen, aber eben auch keine krassen Katastrophen.“
Torsten Ranft spielt den weisen Stadtgründer und ersten König von Theben. Für die bacchantischen Ausschreitungen heftet er sich eine sehr lange Rasta-Perücke auf den Kopf und tänzelt zusammen mit Freund Teiresias neckisch um die Schieferplatte. Dort oben hat, zunächst merkwürdig schüchtern, Gott Dionysos seinen ersten Auftritt: Philipp Grimm steht da wie ein verdruckster Außenseiter, drückt sich eine leere Packung billigen Sekt an die Brust und redet sich in Rage.
„Ich will die Ehre meiner Mutter verteidigen. Pentheus, Thebens König, der Enkel von Kadmos, Agaues Sohn und mein Cousin – er leugnet mich und bringt mir keine Opfer.“
Natürlich: eine Familiengeschichte: Dionysos‘ Mutter, Semele, war eine Sterbliche und Teil von Thebens Herrscherfamilie. In Thomas Melles Nachdichtung sind eher beiläufig zeitgenössische Begriffe eingestreut. Man hört die Worte Rente, Drohne, Virus aus dem Osten. Dabei meidet Melle klug die aktuellen Debattenthemen. So bleibt die Frage in der Schwebe, ob seine Bacchantinnen, die wie es heißt, mit bloßen Händen ganze Rinder in Stücke reißen, für unseren kapitalistischen Hedonismus stehen. Oder ob der konservativ-spießige Maßhalter Pentheus mit seiner administrativ verordneten Triebunterdrückung eine Leitfigur fürs aktuelle Biedermeier sein könnte.

Derweil sucht Regisseurin Lilja Rupprecht in allen Figuren nach möglichen fluiden Identitäten: Dionysos ist mehrfach besetzt und zerfällt in vier Figurenfragmente. Pentheus ist in Leonie Hämers Spiel zunächst im patriarchalen Männerkorsett gefangen, aus dem sie sich als Frau befreit, wenn sie den Bakchen und ihrem Gott Dionysos lüstern neugierig hinterherspioniert. Die Zuordnung Frau – Bakchen – Natur – Trieb bzw. Mann – Ordnung – Staat – Kultur ist durch die Besetzung so sehr gebrochen, dass sie als dramaturgisches Grundgerüst nicht mehr funktioniert. Nur Agaue, die Mutter des Pentheus und Anführerin der Bakchen, gespielt von Christine Hoppe, ist von Anfang bis Ende eine Frau. Leider ist weder sie noch die Regie der wohl schlimmsten Herausforderung der gesamten Tragödienliteratur gewachsen: Agaue muss erkennen, dass sie ihren Sohn im Rausch in Stücke gerissen hat. Egal wo, im Spiel, im Bild oder in den Sounds des Live-Musikers Philipp Rohmer hätte dieser legendäre Erkenntnismoment stattfinden müssen. Stattdessen wuchten zwei Bühnenarbeiter riesige Plastikkörperteile auf die Bühne. Das aber ist Illustration. Lilja Rupprecht klebt Idee an Idee, aber eine Vorstellung von oder einen Sog hin zum Rausch des Untergangs findet sie nicht.