VR – Live Inszenierung am BE
Schöpfung und Trauma
von Eberhard Spreng
Immersive Erfahrungen will das Team Raum und Zeit schaffen, zu denen die Autoren und Künstler Alexander Althoff, Lothar Kittstein und Bernhard Mikeska gehören. Das sind mal Audiowalks, mal Einzelbegegnungen von Publikum und Akteurinnen und Akteuren in mal virtuellen, mal realen Räumen. Jetzt habe sie sich, anlässlich von Thomas Manns 150 Geburtstag, dessen „Doktor Faustus“ vorgenommen: „Faustus::1550 San Remo Drive“ aufgeführt am Berliner Ensemble.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 01.02.2025 → Beitrag hören

Auf den Sitzen im Neuen Haus des Berliner Ensembles liegen VR-Brillen bereit. Das Publikum soll sie für einige Szenen aus der biografischen Thomas-Mann Revue aufsetzen.
„Beim Aufsetzen der Brille ist es wichtig, dass sie nach vorne schauen, weil die Brille sich dementsprechend ausrichtet.“
Dieser technische Hinweis kann auch metaphorisch verstanden werden. Denn während der gesamten Aufführung wird das Publikum unentwegt die Perspektiven, Blickrichtungen und Orientierungen wechseln. Es wird aufgefordert, Thomas Mann und seinen Roman-Protagonisten Adrian Leverkühn mal vor sich zu sehen und dann in deren Haut zu schlüpfen, aus der Außensicht zur Innensicht zu wechseln. Kernthema ist das unaufgelöste Spannungsfeld zwischen dem Privatleben des Schriftstellers und dessen Niederschlag im Roman Doktor Faustus. Schlüsselfigur hierfür ist der Enkel Frido, der während der Entstehung des Künstlerromans immer wieder in Thomas Manns Villa am Remo Drive untergebracht war und den Schriftsteller zu der engelhaft schönen Kinderfigur Nepomuk inspirierte, die im Roman einen frühen elenden Tod stirbt. In einer in Realpräsenz vorgeführten Eingangsszene wird der nun erwachsenen Psychoanalytiker Frido Mann befragt
– „Was hat er denn so mit Ihnen gemacht?
– Ach so dies und das, er las mir gerne vor, er las sehr gut vor, am liebsten Andersen: Die kleine Seejungfrau, sein Lieblingsmärchen, wir hörten auch klassische Musik …
– Ganz toller Mann, erzählen sie uns mehr, Herr Mann … ist alles gut? … Herr Mann?“
Das betretene Schweigen des befragten, nun erwachsenen Enkels spricht Bände. Es lässt die Vermutungen zu, das er traumatische Erfahrungen machte . In einer späteren VR-Szene sehen wir den Jungen in einem Laufstall liegen, unter den Blicken der sechs Thomas-Mann Kinder, die allesamt von Bettina Hoppe gespielt werden. Die VR Technik macht möglich, dass wir ein und dieselbe Akteurin im gleichen virtuellen Raum in mehreren Rollen sehen und die Hoppe zeigt in jeder der Töchter und jedem der Söhne sehr einfühlsam Aspekte ein und derselben Unterwerfung unter das Diktat des Dichterfürsten. Dessen Alter Ego trifft in der Figur des Komponisten Adrian Leverkühn auf der Bühne auf einen italienischen Strizzi.
– „Ich mach’s ihnen gerne.
– Für mich, du machst es mir nicht, für mich ! Ich bin nicht abgeneigt, ich möchte hier sehen wo man sonst nicht hingelangt. Verstehst du mich?
– Ja, in den Fremden einzudringen.
– Das Fremde! Vielleicht kannst du mir ja behilflich sein.
– Puh, ist die Frage was sie mit mir machen wollen.“
Klar, hier hüllt sich ein eindeutig homosexuelles Begehren in eine mehrdeutige Sprache. Das ist eine Schlüsselszene an einem Abend, der im ständigen Wechsel der Perspektiven die Literatur des Großschriftstellers aus seiner privaten Emotionalität heraus erklären will. Es geht um die Kollateralschäden, die Thomas Manns künstlerische Arbeit in seiner Familie hinterlassen hat. Deren Anwalt ist Sohn Klaus Mann.
– „Der ganz ficktive Teufel, der in dem ganz ficktiven Palestrine haust und dem ficktiven Komponisten ficktiv erscheint, dem Leberkühn, dem Zwölftonmann,
– Ja ich kenn ihn, ich hab ihn ja verfasst und geschrieben …
– Im Steinsaal, wer ist denn das?
– Klaus jetzt fass mich mal nicht an!
– Ich frag ja nur, wer könnte das denn sein, wen meinst du denn, Vater sag wer?
Die VR-Technik begleitet die Thomas Mann Romananalyse, diese Literatur-Dekomposition mit mal verblüffenden, mal vorhersehbaren Bildern: Wir sehen einmal auch den Zuschauerraum vor uns, wie der sich nach und nach mit dem immergleichen Kritiker füllt, werden vom Dach der Berliner Ensembles herab ins Wasser der Spree geworfen, werden von Teufeln mitroten Brillen mal von oben, von der Seite und von hinten angesprochen und kriechen am Ende wieder einmal in die Haut des nunmehr sterbenden Thomas Mann. Interessanterweise führt dieser technisch vermittelte Perspektivwechsel aber überhaupt nicht zu dem, was man im Theater gemeinhin Identifikation nennt. Die ist wohl doch eher ein spontanes Gefühl und kann durch keinen technischen Trick simuliert werden. Die subtile Einfühlung, die dem Team von Raum und Zeit in vorangegangenen Arbeiten am Berliner Ensemble gelang, will sich hier nicht einstellen.