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Theater in der Landschaft
Ins Offene?
von Eberhard Spreng

Zahlreiche europäische Festivals sind Koproduzenten des Projekts „Perfoming Landscapes“ mit dem sich Kunst und Performance in die Landschaft aufmacht. Rimini Protokoll Mitbegründer Stefan Kaegi und Caroline Barneaud sind die Kuratoren. Aber auch „Que ma joie demeure“ nach dem 1935 erschienenen Roman von Jean Giono lud zu fast sieben Stunden Theater im Freien ein.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 18.07.2023 → Beitrag hören

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Avignon vor einem Jahr: Es regnet Asche auf die Festivalstadt. Am Horizont steigt eine orange-braune Wolke auf, der Geruch von verbrannter Vegetation liegt in der Luft. Mit Bildern eines alttestamentarischen Strafgerichts drängte sich die Natur in die Kulturschau – wie ein Einbruch der Wirklichkeit in die Welt der Kunst.

„Bienvenu à paysages partagés. Veuillez trouver un endroit entre les arbres et vous asseoir sur votre couverture.“

Ein Jahr später nimmt das Publikum, mit einem Drahtloskopfhörer und einer Decke ausgestattet, im schütteren Schatten der Bäume auf dem Boden Platz. Die Performanceserie „Paysages Partagés“ beginnt mit einem Gespräch, das Mitinitiator Stefan Kaegi zuvor unter anderen mit einem achtjährigen Jungen, einem Meteorologen, einem Förster, einem Psychologen aufgenommen hatte: Ein Gespräch über Bäume, Wolken, Ängste und andere grundlegende Dinge des Lebens. „Shared Landscapes“ so der englische Titel für die Sammlung von sieben sehr unterschiedlichen Arbeiten, soll eine neue Sensibilität für Landschaften stiften. Allerdings sind die jeweils etwa 30 minütigen Erlebnisangebote von sehr unterschiedlicher Güte. Zu naturnaher Selbsterfahrungsgruppenübung lädt ein portugiesisches Performerduo ein.

„Je suis l’arbre… Ich bin der Baum, ich bin das Licht, ich bin die Person, die Dir die Hand reicht“ und so weiter… Milde ironisch hatte das esoterisch anhauchte Gruppenspiel begonnen, mit dem jede und jeder eingeladen wird, das eigene Selbst im Energiefeld des Kollektivs und einer idealisierten Natur aufzulösen. Dann, an anderer Stelle ein Blick durch die VR-Brille in die nun menschenleere Landschaft. Später der Gang zu einem nahe gelegenen Weinberg, der zur Bühne wird für Gespräche über die von Agrarkonzernen korrumpierte Nachhaltigkeitsinitiativen der EU.

“There is the proposal from the European Commission to cut by half the use of pesticides … “

Der Ukrainekrieg habe die Initiative zur Halbierung des Pestizideinsatzes ausgebremst, erfahren wir aus unseren Kopfhörern und später erzählt ein Bio-Weinbauer von Besonderheiten der Rebsorte Carignan und eine Ornithologin von den 350 Silben, den die Feldlerche in ihrem Wortschatz hat. Dokumentarisches im Ohr, ist die Landschaft bestenfalls Dekor und Kulisse. Zum Akteur wird diese Natur erst zum Schluss beim spanischen Performanceduo El Conde de Torrefiel. Sie hält eine Hassrede auf die konsumverliebte und für die Schöpfung schädliche Menschheit. Gezeigt wird dies als Texteinblendung in einem breiten Led-Panel über der trockenen Heidelandschaft: So als läse man da die Untertitelung für einen Film, der aus nichts besteht als dem Blick in die Landschaft. Die Natur schimpft uns aus, den Menschen, der alles zerstört.

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Dafür kann das Publikum einige Tage später Buße tun, in dem es in der Nacht aufsteht, um einer weiteren stundenlangen Landschaftserkundung beizuwohnen. Sie beginnt nach Fahrt mit dem Shuttlebus kurz vor Sonnenaufgang um sechs Uhr morgens. Allein dieser Umstand birgt überraschende Erfahrungen: Der unausgeschlafene Geist ist noch zwischen Tag und Traum, das Auge blickt noch träge, aber durchs Ohr dringen die Worte der Literaturadaption „Que ma joie demeure“ direkt in eher intuitive Bereiche der Seele. Die erste der knapp sieben Stunden ist daher die Schönste. Die Landschaft macht die karge Hochebene erfahrbar, die der provenzalische Romancier Jean Giono in den 1930er Jahren zum Schauplatz einer messianischen Erweckungsgeschichte gemacht hatte.

“La maladie des mineurs qui deviennent aveugle … “

Eine unheilbare Krankheit ist über die arbeitende Bevölkerung gekommen, vor allem aber über die kleine Gemeinschaft von Bauern, die auf mageren Böden, in heißen Sommern und kalten Wintern ihr Tagwerk verrichten. Mit dem rätselhaften Bobi kommt eine Erlöserfigur ins Spiel, stellt die herrschenden ökonomische Regeln in Frage, lädt zum großen Weltentzücken ein. Die Gemeinschaft entdeckt die Freude wieder, die Daseinsekstase.

Immer wieder setzt sich das Publikum in der Landschaft außerhalb von Avignon auf den Boden oder auf mitgeführte Wanderhocker für eine etwa 20-minütige Szene. Dann geht es weiter durch Wiesen, Olivenhaine und Pinienwälder zur nächsten Station, einmal auch vorbei an einer verkohlten Baumreihe, die der Brand im letzten Jahr hinterlassen hat. In Jean Gionos animistischem Christianismus tauchen agrarkommunistische Ideale auf, Naturverehrung und frühe ökologische Argumentationen gegen übertriebene Landwirtschaft. Glücklicherweise modernisiert Regisseurin Clara Hédouin diese Heimatliteratur, deutet Verbindungen zur Hippiebewegung der 1970er Jahre an, schafft Resonanzräume für heutige Ökobewegungen. Und hier nähern wir uns tatsächlich, Kraft dieser Literaturinszenierung, der Landschaft an. Kann Theater ein neues Bündnis stiften zwischen Natur und Mensch? Avignon macht hierfür erste zaghafte Versuche.