Stuecke-aus-dem-nahen-Osten-beim-Festival-in-Avignon-2022

Nah-Ost-Schwerpunkt in Avignon
Arabische Muttergötter
von Eberhard Spreng

Ein Fokus mit arabischen Produktionen präsentiert beim 76. Festival d’Avignon Arbeiten aus dem Libanon, Palästina und Israel. Theater, Tanz und Performance zeigen vor allem Aspekte der Mutterfigur in den Konflikträumen des nahen Ostens.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.07.2022 → Beitrag hören

„Milk“. Regie: Bashar Murkus. Foto: Christophe Raynaud de Lage

Ein leerer Raum und die palästinensische Dichterin Carol Sansour. Mehr braucht es bei ihrer Lesung nicht, um in Avignon einen Resonanzraum zu schaffen, in dem sich die große Politik in den kleinen privaten Ereignissen bricht.

„Eingang, Ampel, Plakat, Trennwand, Graffiti, Autos, Autos, Autos, … Sonne, Bank, Zitronen und endlich: Das Zuhause”

Die Lesung des Gedichts „Fil Mishmish“ -„In der Aprikosensaison“ von Carol Sansour führt aus der unverbundenen Ansammlung von Aspekten der äußeren Wirklichkeit in eine heimische Welt, in der Sinneswahrnehmung, Gefühle und Verrichtungen zusammenfinden, Sinn machen, Geborgenheit herstellen und ein Gefühl der Verbundenheit. „Fil Mishmish“ erzählt, poetisch verrätselt, von einem Gottesdienst, von einem religiösen Orden, streift den Islamischen Staat, spricht von der Sinnlosigkeit intellektueller Belehrungen und von Bomben, die auf die Welt fallen wie Gottes Worte auf Propheten. Aber das Langgedicht endet mit dem Einkochen von Aprikosen zusammen mit der Mutter, die hier zu einer unerschöpflichen Instanz des Lebensglückes wird. Die Mutter in der arabischen Welt, das sollte Leitmotiv auch für andere Aufführungen aus dem nahen Osten werden.

In der von heikler Symbolik überfrachteten Arbeit „Milk“ des jungen Bashar Murkus aus Haifa regnet es regelrecht Muttermilch vom Schnürboden, nachdem einr Gruppe von Frauen in zeremoniellen Bildern mit lebensgroßen Puppen hantierten, die für die unbeseelten Leiber ihrer verstorbenen Söhne stehen. Milch spritzt aus ihren vorgeschnallten Theaterbrüsten, Milch sammelt sich letztlich zu einem See auf der Bühne. Grelle Bilder um ein Mutter-Sohn-Motiv, Pieta-Darstellungen, die Mater Dolorosa wird zu einem immer wieder auftauchenden Motiv in der Reflexion über die nicht endenden Konflikte und Kriege im nahen Osten.

„Jogging“, eine Solo von Hanane Haj Ali. Foto: Christophe Raynaud de Lage

Einen Kontrapunkt zu einer symbolisch überhöhten, nur positiv besetzten Mutterfigur brachte die libanesische Performerin Hanane Hajj Ali ins Programm ein.

Satirisch überzeichnet stellt sie die Schreckensgestalt der antiken Medea ihrem Publikum vor und erklärt, dass sie deren Verhalten nicht habe verstehen können, bevor sie selbst als Mutter ihres schwer kranken Sohnes sein Leiden an einer schmerzhaften Erkrankung miterlebt hatte. Vier Geschichten von mordenden Müttern hat sie in ihrem Solo versammelt: Die Geschichte einer junge Libanesin, die von der Untreue ihres Ehemannes erfährt und sich und ihre Töchter umbringt. Oder die Geschichte einer zuvor eher links eingestellten Frau, die in den Wirkungskreis des fundamentalistischen Islam gerät und sich nichts sehnlicher wünscht, als Mutter von Märtyrern zu werden. Zwei Mal wird ihr Wunsch Wirklichkeit, bevor sie den Brief ihres gefolterten und eingesperrten jüngster Sohnes erhält, der ihr ideologisches System zum Einsturz bringt. Zwischen der antiken Medea und ihren zeitgenössischen libanesischen Nachfolgerinnen schafft die Performerin narrative Verbindungen und legt wieder einmal nahe, dass alte Tragödienstoffe sich im Nahen Osten leichter in der Gegenwart wiederfinden lassen, als irgendwo sonst auf der Erde.

„Du temps où ma mère racontait“ von Ali Chahrour. Foto: Christophe Raynaud de Lage

Ein regelrechtes szenisches Memorial für die Mutter in Trauer um den Sohn errichtet der ebenfalls libanesische Ali Chahrour für seine Tante. Die war, tief bekümmert über den Verlust ihres Sohnes an Lungenkrebs verstorben. Seit 2015 war dieser in Syrien verschollen, vermutlich ist er ein Opfer des Krieges. Der Choreograph spürt in seiner Performance den Tragödien nach, in die der Syrienkrieg seine Familie gestürzt hat. Eine weitere authentische Geschichte bringt ein anderes Mutter-Sohn-Paar auf der kahlen, schwarzen Bühne im Hof des alten Universitätsgebäudes in Avignon zusammen. Der junge Mann, einst begeistert von der Perspektive des bewaffneten Kampfes und des möglichen Märtyrertodes wird so zum Interpret in einem Tanztheaterstück. Die Kunst versteht sich als Heilerin aller Übel und veranstaltet ein von pulsender Musik befeuertes Ritual, in dem aller Schmerz des Krieges seine Auflösung erfahren soll. Auch die sehr persönliche Aufführung des Ali Chahrour zeigt symbolisch überhöhte Bilder der Frau als Mutter, Bilder der Verehrung und Bilder der körperlichen Nähe zwischen ihr und dem Sohn. Es ist damit aber auch Dokument einer paternalistischen Kultur, die die Frau nur als Mutter vergöttert.