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Tschechows „Die Möwe“ in Paris
Endspiel im Wasteland
von Eberhard Spreng

Vor einem knappen Jahr machte der Verzicht des Regisseurs Stéphane Braunschweig auf eine Vertragsverlängerung am Odéon-Théâtre de l’Europe in Frankreichs Schlagzeilen. Mittelkürzungen für die französischen Nationaltheater sind der Grund. Seine letzte Regietat an dem von ihm seit 2016 geleiteten Haus: „La Mouette“. Tout Paris kam und schaute.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 12.11.2024 → Beitrag hören

Foto: Simon Gosselin

Auf einem schmalen Streifen vor dem eisernen Vorhang spielen die ersten Szenen: Das übliche Warmlaufen der Gelangweilten, der Künstler und derer, die es gern werden würden, der Etablierten und des Nachwuchses. Eine Gesellschaft auf Landpartie, die sich herzlich auf die Nerven geht. Zwei junge Leute wollen ihr Talent mit einer kleinen Theateraufführung beweisen, die Tschechow dereinst auf einer Gartenbühne des Anwesens verortete. Das ist Theater im Theater, ein apokalyptischer Monolog, den das genervte Gutshofspublikum unterbricht und über das es sich lustig macht: Ein Stück ohne Dekor und schmückendes Beiwerk, eine dystopische Zukunftsvision vom ökologischen Ende, eine fürs Jahr 1895 wilde Avantgarde. Bislang hat man das in den Möwe-Inszenierungen als poetische Spielerei abgetan, nur als Auslöser für Streit und Drama. Aber diese dramaturgische Nebensache macht Regisseur Stéphane Braunschweig nun zum Kern seiner Inszenierung und den nimmt er bitter ernst. Denn nun öffnet sich der eiserne Vorhang und gibt den Blick frei auf eine große postapokalyptische Landschaft.

Ein verrottetes Boot, Steine wo früher einmal Wasser war: So als blickten wir auf die einstigen Ufer des vertrockneten Aralsees. Darüber hängt an Seilen Schauspielerin Nina im weißen Schutzanzug und verkündet das längst erfolgte Ende allen Lebens auf der Erde.

„Voilà déjà des milliers de siècle que la terre ne porte plus un seul être vivant et cette pauvre lune allume en vain son fanal.“

Wo Thomas Ostermeier vor einem Jahr an der Schaubühne die Figuren dieses derzeit oft gespielten Stücks unter dem Blätterdach eines geradezu gewaltigen Baumes auftreten ließ, quasi unter der schützenden Hand von Mutter Natur, spielt diese Möwe in der unwirtlichen Wüste nach der Klimakatastrophe. Diese Welt hatte der erfolglose Möchtegernschriftsteller Treplev in seinem Textlein imaginiert. Hier ist sie Theaterwirklichkeit geworden. Also fläzen sich Erfolgsaktrice Arkadina und ihr Schrifstellerfreund Trigorin und all die anderen auf kahlen Steinen. Hier findet das Gerede über Kunst in der Wüste statt, und hier spricht man über eine Welt, die längst aufgehört hat zu existieren. Hier ist es auch, wo der heftige Streit zwischen Mutter Arkadina und Sohn Treplev ausbricht.

– „Vas retourner à ton cher théâtre, va jouer des pièces minables, ridicules.
– Jamais je ne jouerais dans une pièce comme ça. Toi, t’es un minable t’es pas fichu d’écrire ! Bourgeois de Kiev!“

Die Mutter verspottet die künstlerischen Ambitionen des Sohnes, schafft die Voraussetzungen für dessen existentielle Krise, die ihn Jahre später in den Selbstmord treiben wird. Cloé Réjon spielt die bis zur lächerlichen Gespreiztheit selbstverliebte Arkadina, Jules Sagot den Sohn Treplev mit jugendlicher Verbissenheit. Ève Pereur verkörpert glaubhaft die Nina als Mädchen vom Land. Denis Eyriey bringt in das erregte Geschehen die melancholische Abgeklärtheit und den nüchternen Fatalismus des Schriftsteller Trigorin. Stéphane Braunschweig inszeniert eine pessimistische Möwe als nicht durchgängig aufregendes Schauspielertheater, das das Publikum im Théâtre de l’Odéon mit freundlichem Applaus quittierte.

Tout Paris war gekommen, um diese letzte Inszenierung des scheidenden Intendanten zu sehen. Sie steht für das Ende einer Epoche. Vielleicht auch für das Ende der Exception Culturelle, diese bevorzugte Position der Kultur in Frankreichs Politik auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Konkret droht das Ende einer gesicherten Mittelausstattung der Nationaltheater, zu denen das Odéon gehört. Der Finanzminister hat dem Kulturetat Kürzungen von über 200 Millionen auferlegt. Die Kulturministerin Rachida Dati spart vor allem in Paris und davon sind insbesondere die Nationaltheater betroffen. Stéphane Braunschweig will diesen Kurs nicht mittragen.

Er hat neun erfolgreiche Theaterjahre am Odéon-Théâtre de l’Europe geprägt, ist dem europäischen Gedanken, den das Haus im Namen trägt, gerecht geworden und hat neben dem eigenen, eher konventionellen Theateransatz, etablierte internationale Regiegrößen und profilierte Nachwuchspositionen gefördert. Eine davon ist der junge Regiestar Julien Gosselin, der das Haus als neuer Intendant in die Zukunft führen wird.