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Uraufführung am Odéon-Théâtre de l’Europe
Verschollen in Berlin
von Eberhard Spreng

Die Uraufführung von „Berlin mon garçon“ war im letzten Jahr am Straßburger Nationaltheater geplant, musste aber im ersten Lockdown abgesagt werden. Nun kam sie am Odéon in Paris heraus. Marie NDiayes Berliner Lebenserfahrung ist in das Stück eingegangen.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.06.2021 → Beitrag hören

Foto: Jean-Louis Fernadez

Es ist die Geschichte eines verlorenen Sohns. Die Heimat in der französische Provinz hat er verlassen und ist nach Berlin gefahren. Den Kontakt zu seinen Eltern hat er seit sechs Monaten abgebrochen. Wie er heißt, wissen wir nicht und eine Figur in Marie NDiayes neuem Theaterstück ist er auch nicht. Er ist der leere Mittelpunkt, um den alle Gespräche kreisen, das Familienrätsel, das seine Mutter Marina mit einer Reise in die deutsche Hauptstadt lösen will.

„Voilà donc ce Berlin dont ils rêvent tous, voilà devant mes yeux enfin cette ville fabuleuse dont ils entendent de très loin l’irrésistible chant. Mais quelle horreur mais quelle tristesse, me disais-je.“

Ein graues Berlin sieht die von Hélène Alexandridis verkörperte Mutter, eine trostlose, graue Stadt und wundert sich über den Ruf, den sie bei der Jugend genießt. Groß projizierte schwarz-weiß Fotos zeigen sie auf ansonsten leerer Bühne in ihrer ganzen Trostlosigkeit. Hélènes Berliner Gastgeber heißt Rüdiger. Er ist ein abgehärmter Rentner, der sie vom Flughafen abgeholt hat und nun ins Corbusierhaus im Berliner Westend bringt, wo sie ein Zimmer in seiner Wohnung angemietet hat. Aber Rüdiger bleibt unheimlich und seine Pläne mit der Französin sind ambivalent. Dann Szenenwechsel: Eine Buchhandlung im französischen Chinon, die Marina und ihr dort verbliebener Mann Lenny, der kulturfremden Provinzstimmung zum Trotz, betreiben. Dort streiten Lenny und seine Mutter Esther über das Schicksal des verschollenen Familienmitglieds. Es ist nicht die weite Clubszene im Moloch Berlin, die ihn verschluckt hat, es ist ein Terrorvorhaben, die Vorbereitung auf eine mörderische Schandtat.

„Va, mon enfant, et ne commets pas de péché.“

Großmutter Esther wirft ihrem Sohn vor, den Enkel mit der nutzlosen Lektüre kluger Bücher überfordert zu haben, statt ihn mit der schlichten katholischen Ermahnung „Sündige nicht“ auf den rechten Weg zu bringen. Für alle eine Enttäuschung war die Entwicklung dieses Sohns und sein neuerlicher Hang zu ungehemmter Bösartigkeit, so mag man vermuten, ist die Konsequenz.

Das Stichwort „Terrorismus“ war gefallen, als der Straßburger Intendant Stanislas Nordey bei Prix-Goncour Preisträgerin Marie NDiaye einen Stückauftrag erteilte, für den er ihr völlige Freiheit ließ. Da NDiaye aber an Trendthemen und politischen Mainstreamdebatten völlig desinteressiert ist, zieht sie das Vorhaben mitten in ihr angestammtes Kompetenzgebiet: Die unheimliche, unabgeklärte, die böse Macht familiärer Beziehungen. Und sie legt falsche Fährten. Im Verhältnis von Esther zu ihrem Sohn Lenny leuchtet der Konflikt zwischen katholischem Fundamentalismus und einem aufgeklärten Universalismus auf, für den die trotzige Provinzbuchhandlung steht. Religion und Aufklärung, zwei immerfort mit einander ringende Mächte im französischen Zivilisationsmodell. Dass Marina ausgerechnet im Berliner Corbusierhaus untergebracht ist, lässt an die Qualen einer autoritären Architekturmoderne denken, die ihren Bewohnern die Lebensform mit einem Betonkorsett aufzwingt. Die westliche Vernunft gebiert Monster, der Terrorismus ist ihr eigenes Kind, so mag man für Momente denken. Auch eine der falschen Fährten. Dann wieder treten zwei Mutter-Sohn Linien vor Augen: Esther und Lenny sind willensstarke Kämpfer für ihre jeweilige Sache, Marina und ihr Sohn aber anscheinend nur Mitläufer und potentielle Aussteiger aus etablierten Lebensentwürfen. So wie ihr Sohn einem destruktiven Traum anheim gefallen ist, will auch sie nicht mehr in die Ordnung der französischen Provinz zurück, steigt aus der Mutterrolle aus, bleibt in Berlin und offen für den dunklen Einfluss des Manipulators Rüdiger, der auf geheimnisvolle Weise mit dem Verschwinden des Sohnes zu tun hat.

Foto: Jean-Louis Fernandez

Marie Ndiayes Figuren treten nicht wirklich in Dialoge ein. Sie erzählen von sich und ihrem Gegenüber in der Vergangenheitsform: So als stünden die Akteurinnen und Akteure neben sich selbst, sprechen sie von sich und den andern wie aus einer anderen Zeitebene, wie Erzählerinnen und Erzähler eines Romans. Dabei geben sie von sich selbst immer nur Bruchstücke preis, kommentieren ihren Gesprächspartner, eine multiperspektivische Psychologie entsteht. Der Straßburger Intendant Stanislas Nordey hat diese Erzählprosa auf aufgeräumter Bühne mit einer stringenten Grammatik von Wort, Geste und Blickachse inszeniert, wie eine stille Meditation über einsame Menschen, die einander letztlich immer fremd bleiben müssen. Es ist eine Geschichte vom ungeliebten Kind, ein modernes Märchen, das auf den Terrorismus schaut wie aus weiter, poetischer Entfernung.