Sonia-Chiambretto-untersucht-in-Oasis-Love-das-Verhaeltnis-von-Jugendlichen-und-Polizei

Dokumentartheater über Jugend in der Banlieue
Der ideale Polizist ist eine Polizistin
von Eberhard Spreng

Im Jahr 2022 kamen in Frankreich 13 Menschen bei Verkehrskontrollen ums Leben. Im Frühsommer 2023 löste der Tod des jungen Nahel im parisnahen Nanterre eine ungeahnte Welle von Protest und Zerstörung aus. Das alltägliche Konfliktverhältnis von Jugendlichen und Polizei ist Thema in „Oasis-Love“ der Autorin und Regisseurin Sonia Chiambretto beim Festival d’Automne.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 19.09.2023 → Beitrag hören

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Ein Betonblock, ein Fahrradständer aus Edelstahl, zwei Straßenlaternen. Im Hintergrund hoch aufragende Fassaden nächtlicher Wohntürme. In der so angedeuteten Banlieuewelt haben sich zwei junge Männer mit Migrationshintergrund postiert und träumen von der idealen Frau. Die muss natürlich eine einwandfreie Reputation haben. Dann kommt eine Performerin auf die Bühne und macht im Jargon der Vorstädte ihre Lebensvorstellungen klar.

„Mettre un short quand t’es une fille c’est mal vu ? Moi, je m’en bat les couilles … “

„Man wird schlecht angesehen wenn man als Mädchen Shorts trägt, scheißegal!“ Nachts rausgehen? Sich schminken? Fussball spielen? Alles schlecht für den Ruf, aber diesem Mädchen ist das schnuppe. Die Regisseurin und Autorin Sonia Chiambretto will mit „Oasis Love“ zunächst einmal die von Vorurteilen und Genderklischees verstellten Lebens- und Liebesmöglichkeiten der jungen Frauen erkunden. Erst skizziert sie das innerhalb der „Cités“ herrschende Macht und Unterdrückungsverhältnis, dann geht es um ihr zentrales Anliegen, das sich in stereotypen Bildern von Flucht und Verfolgung darstellt.

„La course des jeune gens qui y vivent et dans le même mouvement : la course des policiers.“

„Warum kommt es immer wieder zu diesen Verfolgungsjagden von Polizei und Jugendlichen?“ fragt die Regisseurin. „Ein Junge“ so erzählt sie, „rennt immer fort, weil es ihm einfach zuviel Lebenszeit kostet, ständig kontrolliert zu werden. Ein anderer Junge erzählt, bei der letzten Kontrolle habe ihm ein Polizist immer wieder gesagt, er solle aufhören zu grinsen und dass er ihm das Grinsen noch austreiben werde, obwohl er nicht einmal gelächelt habe.“ Chiambretto, die sich schon seit Jahren mit Polizeigewalt auseinander setzt, hat in Marseille und im Pariser Vorort Nanterre mit Jugendlichen gearbeitet. Also genau dort, wo Nahel im Frühsommer bei einer Kontrolle von Polizeikugeln getötet wurde.

Die Aufführung bilanziert einige Ereignisse der letzten Jahre: Clichy sous Bois, wo sich zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorhäuschen versteckten und tödliche Stromschläge erlitten. Sie waren der Anlass für die erste große Welle der brennenden Vorstädte in Frankreich. Zitiert wird auch das us-amerikanische Ferguson, wo Michael Brown 2014 von Polizeikugeln getötet wurde und weitere Fälle, die gewaltige Proteste auslösten. Der französische Begriff „Émeute“, der Aufruhr, dieser kleine missachtete Bruder der großen noblen Revolution, ist für Sonia Chiambretto im etymologischen Ursprung zunächst einmal ein Aufwallen der Gefühle, angesichts ungerechter Gewalterfahrung:

„Tu sors tes mains de tes poches ! Les mains en évidence ! Retourne toi ! …“

Stakkatoartig wiederholte Polizeibefehle. In den Banlieues hat die Regisseurin auch Kinder befragt. Die leiden darunter, früh morgens durch Polizeieinsätze geweckt zu werden, dem Krach im Treppenhaus, wenn Türen eingeschlagen werden. Was wäre für sie der ideale Polizist? lautete eine der Fragen: „Der ideale Polizist, ist eine Polizistin“, sagt eines der Kinder.

„Un policier de mes rêve, au lieu de défoncer les portes … „

In diesen Vorstellungen der Kinder sieht Sonia Chiambretto den Traum vom Frieden in den Vorstädten und sie zitiert dabei nicht nur die Opfer auf der einen Seite. Von Polizist:innen, die sich mit der eigenen Dienstwaffe erschossenen haben, ist die Rede: Selbstmord aufgrund einer anscheinend unentrinnbaren strukturellen, systemischen Gewalt. Und doch bleibt dieser Abend, der in griffigen Choreographien Verkündigungstheater performt, Antworten auf weitergehende Fragen schuldig: Gibt es eine politische Agenda hinter der Eskalation von Gewalt bei dieser Polizei, in der so viele dem Rassemblement National und der Ultrarechten nahe stehen? Wird hier der Algerienkrieg in hybrider, maskierter Form fortgesetzt, ist das eine kryptische Rückkehr kolonialer Gewalt? Sonia Chiambretto ist erschüttert darüber, dass die Vorstädte immer als etwas gesehen werden, dass sich „außerhalb“ der französischen Gesellschaft befindet. Sie sucht nach einem poetischen Ausweg aus dem Elend der täglichen Gewalt. Den findet sie nicht, aber als Dokumentartheater ist „Oasis Love“ ein wichtiger Beitrag in einer brennenden französischen Debatte.