Michel Houellebecq
Am Ende angekommen
von Eberhard Spreng
Der 2019 erschienene Roman „Serotonin“ des Michel Houellebecq ist Grundlage einer Potsdamer Aufführung, die Sebastian Hartmann als radikal minimalistisches Solo des Ausnahmenspielers Guido Lambrecht inszeniert hat.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 14.12.2025 → Beitrag hören

Mitten auf der schwarzen Bühne steht ein großer weißer Kasten. Darin sitzt der Darsteller Guido Lambrecht auf einer Bank, mit weißen Schuhen, weißer Hose, weißem Sweatshirt. An einen Mann in einer Bushaltestelle erinnert das Bild. Dieser Mann ist der Ich-Erzähler des Romans: Florent-Claude, Mitvierziger und Angestellter im französischen Landwirtschaftsministerium. Er leidet unter Depressionen und behandelt seine Erkrankung mit einem neuartigen Medikament.
„Es ist eine kleine weiße, ovale, teilbare Tablette. Es zeigte gute Wirkungen: Es ermöglichte die Teilnahme an einer immer komplexer werden Gesellschaft. Die bekannten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Verlust der Libido und Impotenz.“
Fast bewegungslos sitzt der Schauspieler da, steht erst nach einer Stunde kurz auf und setzt sich an anderer Stelle der Bank wieder hin. Sein Blick ist wie ins Leere gerichtet, wenn er vom langsamen Untergang eines Protagonisten berichtet, seinen scheiternden Frauengeschichten und einer erotisch aufgeladenen Begegnung mit zwei jungen Spanierinnen an einer Tankstelle.
„Ihr kurzer Minirock war aus weißer Baumwolle. Es war zu befürchten, dass sich der Rock beim geringsten Windstoß heben würde, aber es gab keinen Wind. Gott ist gnädig und barmherzig.“
Für Florent-Claude existieren die Frauen vor allem als Sexualobjekte: In seiner Welt gibt es nur ein Ordnungsprinzip: die Begegnung von Muschis und Schwänzen. Von ihm sind alle weiteren Handlungsabläufe abgeleitet und an ihm scheitert auch die einzige Chance des Protagonisten auf eine glückliche Beziehung. Er ruiniert die Beziehung zu Camille, was ein Gefühl des existentielle Bedauerns und Scheiterns auslöst und eine krude Meditation über die Liebe der Frauen.
„Die Liebe der Frau ist eine tektonische Kraft, eine schöpferische Kraft. Eine Umwälzung, eine Klimaveränderung. Eine Kraft, vor der man sich fürchten muss.“
Wie so oft beim Autor Michel Houellebecq macht die Romanfigur Florent-Claude keine Entwicklung durch, sondern absolviert das Programm, das ihm der Autor bereitet hat. Er lebt daher vom Anfang bis zum bitteren Ende in der schlechtesten aller möglichen Welten. Wohlmeinende Interpreten werten diese Literatur als die dunkle, verdrängte und verschwiegene Seite unseres Daseins. Andere finden den nihilistischen Fundamentalismus des Autors einfach nur sexistisch und uninteressant. An diesem fünfstündigen Abend, den man gar nicht Theater nennen mag, sondern eher eine Installation oder Performance, gelingt Regisseur Sebastian Hartmann und seinem kongenialen Spieler Guido Lambrecht allerdings ein großes Wunder: Denn was sich da vor unseren Augen abspielt, ist zugleich unendlich langweilig und zugleich hochgradig faszinierend. Denn Lambrecht erkämpft für seine Figur, den der Autor konsequent in den papierenen Untergang steuert, ein wenn auch reduziertes Menschsein. Nur zweimal erhebt er kurz die Stimme in müder Entrüstung. Sein minimalistisches Spiel heischt nirgends Mitleid. Er spielt seine Figur nicht, er erduldet sie. Das Ergebnis ist ein lebendes Dokument der Hingabe.
Hartmanns Regie lässt nur einmal eine Einmischung der Außenwelt zu. Laut donnernder Straßenlärm unterbricht die Aufführung für lange Minuten, bevor Florent-Claude berichtet, wie er einen verzweifelten, befreundeten Bauern beobachtet, der zusammen mit anderen vom EU-Agrarsystem ruinierten Bauern eine Autobahnaktion initiiert, die in einem Blutbad endet.
„Und dann plötzlich drehte er seine Waffe um, setzte sie sich unter sein Kinn und schoss. Der Riese neben ihm erschrak und fing sofort an zu schießen. Die anderen Bauern natürlich auch, sie dachten, die Bereitschaftspolizei hätten ihn erschossen, die Bereitschaftspolizisten erwiderten sofort das Feuer.“
Eine weitere Erzählebene aus der äußeren Welt sind in den Houellebecq-Text eingeschobene Passagen deutscher Lebenserinnerungen. Von Stalingrad ist die Rede, von einer sich von Generation zu Generation fortsetzenden Erfahrung der Gewalt. Durch sie wird dem Roman des Franzosen eine historische Tiefenströmung hinzugefügt. Ansonsten ist diese Literaturadaption ganz ungewöhnlich texttreu. Auf der Bühne ist dies, so puristisch inszeniert und so existentiell verloren gespielt, eine absolute Seltenheit.