Sebastian-Hartmann-inszeniert-Max-Stirners-Der-Einzige-und sein-Eigentum

Sebastian Hartmann inszeniert am DT
Meine Sache
von Eberhard Spreng

Max Stirner hat ein einziges Werk verfasst: „Der Einzige und sein Eigentum“ veröffentlicht im Vormärz, 1844. Es predigt in oft polemischer Deutlichkeit die Selbstbefreiung des „Ich“ von allen moralischen, religiösen und institutionellen Vorgaben. Regisseur Sebastian Hartmann und sein Komponist PC Nackt haben das am Deutschen Theater als „ein Stück Musiktheater“ herausgebracht.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 05.09.2022 → Beitrag hören

Foto: Arno Declair

In schwarzen Anzügen treten sie auf, drei Frauen, drei Männer, und alle haben einen Bewegungstick, der an Slapstick erinnert. Verhuschte Kreaturen, kleinmütige Menschlein geistern über die Bühne und sie scheinen einigermaßen eingeschüchtert ob der gewaltigen Aufgabe, die vor ihnen liegt: Der Stirnersche Mensch soll errichtet werden, einer, der nur sich selbst verpflichtet ist, jede Moral, jede Institution, jeden Staat und jede Religion ablehnt und der nichts gehorcht, als dem eigenen Gesetz. Ein Mensch ohne Metaphysik soll das sein. Stirner entwarf ihn als polemischen Angriff noch in den letzten Jahren der feudalistischen Ordnung in Deutschland. „Ich hab’ mein Sach’ auf nichts gestellt“: Das Goethe-Zitat ist Motto für die Schrift dieses philosophischen Solitärs.

Auf der Bühne hat Sebastian Hartmann diesem Menschen allerdings sehr wohl etwas mächtig Aufragendes vorausgesetzt: Eine sich in die Höhe windende Spirale kreist schon Minuten vor dem ersten Auftritt zu den spacigen Klängen von PC Nackt majestätisch über die Bühne des Deutschen Theaters. An Wladimir Tatlins konstruktivistischen Turm erinnert dieser Aufbau von ferne oder an Bruegels Turmbau zu Babel. Bühnennebel steigt auf; dieser Raumkörper mit seinen glatten hellen Flächen ist ein metaphysisches Mahnmal, auf dem sich an diesem Theaterabend die Akteurinnen und Akteure auf der Suche nach ihrem unverfälschten Ich die Beine wund laufen.

„was soll sache sein,
was soll meine sache sein
die gute sache sein
menschheit sein
wahrheit, freiheit sein“

Stirners rücksichtsloses Ich zielt nicht auf materielles Eigentum, sondern die Loslösung von allen Schlacken, die erlernte Prägungen und Überzeugungen in uns hinterlassen. Er wollte, lange vor Siegmund Freud, eine Art Über-Ich-Bereinigung. Sebastian Hartmann lässt Stirners Ideal-Ich und unser zeitgenössisches Narzissten-Ich in wie immer berauschenden Bildern aufeinandertreffen.

„ich habe mich darum
brauche und genieße ich mich“

Schwarz-Weiß Videobilder flammen auf, eingefangen von einer Kamera, die den Akteurinnen und Akteuren nah folgt. Mit sanfter Bildermacht widerlegt sie die Ich-Behauptungen, indem sie den sich einzig wähnenden lasziv-mondänen Menschen bis in unendliche Unschärfe vervielfacht. Und weil in dieser kleinen Gruppe das Ich eben doch auch auf ein konkurrierendes Ich stößt, kommt es einmal fast zu Mord und Totschlag. Was als Prügelei zwischen zwei Menschen beginnt, geht als Zerschlagung eines Roboters weiter, gefolgt von Reue und der anschließenden feierlichen Grablegung der Maschine: Das Kollektiv findet sich im gemeinsamen Ritual.

„Homo Deus“ singt das Ensemble und zitiert damit den Titel von Yuval Noah Hararis Bestseller. So verlängern Hartmann und sein kongenialer Komponist PC Nackt ihren Stirner-Abend ironisch ins Zeitgenössische. Was wird aus dem Egoisten des 19ten Jahrhunderts, wenn er sich im Digitalen auflöst?

Foto: Arno Declair

Antworten sind in den meditativen, bild- und hier auch klangverliebten Assoziationsräumen des Sebastian Hartmann natürlich nicht zu bekommen. Dass dem Publikum dann auch noch 3-D-Videobilder vorgeführt werden, die es mittels einer Pappbrille bewundern darf, ist eher überflüssig, und dass als Kontrapunkt zum Ich-Menschen das Kollektivwesen Biene durchs dreidimensionale Bild fliegt, eher etwas billig. Aber egal. Der Abend ist eine spielerische Variationen um ein Leitthema. Das Ich und seine Macht. Die Akteurinnen und Akteure jedenfalls erschrecken mitunter vor den Konsequenzen ihrer Machvollkommenheit.

„Ich entscheide, ob es in mir das Rechte ist;
außer mir gibt es kein Recht.
Ist es mir recht, so ist es recht.
Ist es mir recht, so ist es recht.
Ist es mir recht, so ist es recht.“

Max Stirners dämonisches und im Kern asoziales „Ich“ ist in der Geschichte der deutschen Aufklärung ein randständiges Phänomen geblieben. Aber es hat einen indirekten Einfluss auf die Geistesgeschichte nach Hegel, auf Marx zumal. Andere behaupten einen direkten Einfluss auf Nietzsches Menschenbild und Hitlers „Mein Kampf“. Für Stirner war dieses „Ich“ eine im Kern abstrakte Denkfigur. Bei Sebastian Hartmann und PC Nackt bleiben davon im Wesentlichen nur eine Handvoll Leitsätze, aber die sind sehr unterhaltendes Musiktheater.