Sebastian-Hartmann-inszeniert-den-Zauberberg-als-Theater-Onlinestream

Deutsches Theater online
Snow White
Von Eberhard Spreng

Bereits vor 10 Jahren hatte Sebastian Hartmann in Leipzig den 1924 veröffentlichten Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann  auf die Bühne gebracht. Jetzt hat er im Corona-Lockdown am Deutschen Theater eine Videoversion für einen einmaligen Online-Stream angefertigt und die ist wegweisend fürs Theater im Netz.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 21.11.2020 → Beitrag hören

Foto: Arno Declair

Wann immer der deutsche Geist sich aufmacht zu einem Ort für die Suche nach Letztbegründungen, dann landet er fast immer im Gebirge, einer zerklüfteten, unwirtlichen Landschaft mit unfreundlichem Klima. Ein Bild dafür stellt Sebastian Hartman, sein kongenialer Videoanimateur Tilo Baumgärtel und Bildregisseur Jan Speckenbach an den Anfang seiner Zauberberginszenierung, wenn bizarre, in unförmige Fatsuits gesteckte Kreaturen durch den Schnee stapfen und die programmatische Kernfrage des Romans angesprochen wird.

„Die Zeit erzählen? Diese selbst. Als solche. An und für sich. Die Zeit als Element, unlösbar mit dem Leben verbunden wie mit den Körpern, im Raum.“

Sebastian Hartmanns Inszenierungen sind eigentlich, seinem immer schon an den Anfang gestellten Edgar Allan Poe Zitat treubleibend, Träume in Träumen. Es sind Momente, in denen das Theater sich selbst zeigt, wie es seine phantastischen Bildwelten erfindet. Auch hier wieder, bei der legendären Schlüsselszene aus dem Zauberberg: Zwei Bühnenhubwagen machen sich an einem bizarren Raumkörper zu schaffen, während der Romanheld Hans Castorp ermattet von einer Wanderung im Schnee und berauscht von Portwein einen bedrückenden Traum erlebt.

„Zwei graue Weiber, halbnackt, zottelhaarig, mit hängenden Hexenbrüsten, und fingerlangen Zitzen, hantieren dort drin zwischen flackernde Feuerpfannen aufs Grässlichste. Über einem Becken zerreißen sie ein kleines Kind und sie verschlingen sie Stücke, dass die spröden Knöchlein ihnen im Maule knacken.“

Niklas Wetzel ist einer der acht überzeugenden Akteure und Akteurinnen in einem hinreißenden Flow von Bildern um ein zentrales Motiv: Die dick verpackten weißen Körper und die weiß geschminkten Gesichter sind ständig in Gefahr, mit dem ebenfalls weißen Hintergrund zu verschmelzen. Der Tod der Menschen als ein Verschwinden der Bilder. Existenz ist in diesem Theatertraum keine Gewissheit mehr, sondern verwischt sich in einem Meer von Fragen.

„Frage: Ist die Ewigkeit überhaupt eine zeitliche Angabe? Frage: Was mache ich im Augenblick des Wartens?

Nur, wenn der leere Theatersaal mit seiner roten Bestuhlung ins Bild kommt mit den wenigen dort werkelnden Bildtechnikern, dann kommt mit der Farbe eine Lebensgewissheit ins Spiel. Einmal, beim Reden über den Tod, rückt die immer überbelichte Kamera die Akteurin von diesem Hintergrund zurück und lässt sie im weißen Dekor verschwinden, also aus dem Leben in den Tod gehen. Und wenn vom Himmel die Rede ist, blickt die Kamera kurz einmal auf in den finsterschwarzen Bühnenturm. Selten sah man in einem deutschen Theater eine so berauschende Verkehrung der Archetypen, von unten und oben, von weiß und schwarz und ein so gut getimtes Spiel mit den Bildern.

Foto: Arno Declair

Immer wieder mal lässt die Regie den Bildrahmen flackern, spielt bewusst mit der nicht ganz unberechtigten Angst des Zuschauers vor dem Abriss des Lifestreams. Auf weißen Gesichtern flackert per Videotrick die Maske des Todes, dann Bemalungen, ein Hauch von Danse Macabre und Voodoo als permanente Störung dieses Seinszustandes in der Vorhölle. Deren Kreaturen schlurfen gebeugt, ruckeln wie Roboter, immer am Rand des menschlichen Bewegungsschemas. Diese weißen, vom Fettgewebe entstellten Zellhaufen wabern über die Bühne, ständig in Gefahr zu zerfallen. Bildfindungen zugleich für das Romanmotiv des Verfalls und den Seinszustand unserer Gesellschaft im Coronamodus.

„Das Fleisch und die inneren Vorgänge, was hat es damit auf sich? Was ist der Leib des Menschen? Woraus besteht er? Wasser. Hühnereiweiß. Protoplasma. Proteinstoffe. Wasserstoff…“

In Thomas Manns Verfallsliteratur, vor allem seinen Fragen nach Raum und Zeit, war die Relativitätstheorie eingegangen, er hatte diverse Welterklärungen gegeneinander antreten lassen im Wettstreit um die Macht über Hans Castorps Denken. Er hat in dessen zunächst nur als Besuch geplanten und letztlich auf sieben Jahre ausgedehnten Aufenthalt im Sanatorium Berghof auf narrativer Ebene mit Zeiterfahrungen experimentiert. Währenddessen trieb die Welt da draußen einem großen Wandel entgegen. Der Regisseur hat das in einer feinen Balance von Pathos und Ironie auf einen Alptraum kondensiert, der aber auch, wie der Roman, mit der Vorahnung der Stahlgewitter des ersten Weltkrieges endet. Vor allem aber hat Sebastian Hartmann gezeigt, was Theater online leisten kann, indem er den Lockdown nutzte, um die für die Bühne entwickelte Aufführung für die virtuelle Welt komplett umzubauen.