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„Der Idiot“ am Deutschen Theater
Das Leben nicht wert
von Eberhard Spreng

Seine Inszenierung von Dostojewskijs „Erniedrigte und Beleidigte“ am Staatsschauspiel Dresden wurde 2018 zum Theatertreffen eingeladen. Ein Jahr später legte Sebastian Hartmann mit „Schuld und Sühne“ eine weitere suggestiv bildmächtige Inszenierung vor. Nun setzt er am Deutschen Theater mit „Der Idiot“ seine Beschäftigung mit dem russischen Klassiker fort.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 04.11.2021 → Beitrag hören
Deutschlandradio Kultur, Fazit – 03.11.2021 → Gespräch hören

Foto: Arno Declair

Wir alle leben vor lauter Stress und Beschäftigung mit unwichtigen Dingen am Leben vorbei. Und da es bekanntermaßen keinen Ort gibt, an dem man so schön an das Wesentliche erinnert wird wie im Theater, steht auch hier wieder jemand ganz vorn an der Rampe und verkündet in schwarzer Kleidung und schwarzem Hut Bühnenbinsenweisheiten.

„Man mag mich für einen Geisteskranken oder sogar für einen Gymnasiasten halten am ehesten noch für einen zum Tode verurteilten dem es verständlicherweise scheint, dass alle Menschen, er ausgenommen, das Leben viel zu gering schätzen, sich daran gewöhnt haben, viel zu verschwenderisch damit umzugehen, dass es viel zu träge, zu verantwortungslos benutzt ist und folglich alle ausnahmslos, alle seiner unwürdig sind.“

Elias Arens führt wie in einem Prolog in den Denkraum eines Theaters ein, das sich dem „Idioten“ in freier, assoziativer Weise nähert. Auf der Drehbühne steht ein knallrotes neoklassizistisches Fassadenelement, durch dessen Türen und Fenster man hindurchschaut wie durch eine Theatermaske mit ihren toten Augen. Ein riesiges Biwak steht auf der einen Seite, Stäbe für den Bau eines zweiten auf der anderen. Es sind, wie gelegentlich in Inszenierungen des Regisseurs und Bühnenbildners Hartmann, Raumkörper, Theaterskulpturen mit fraglichem dramatischem Wert. Denn gespielt wird weder mit ihnen noch in ihnen und ihr Beitrag für die Bildwelt bleibt weitgehend ein Rätsel. Vor allem im ersten Teil der langen Aufführung wird vergleichsweise viel umhergerannt und gestikuliert, so als hätte man sich in eine schwache Castorf-Arbeit der Nuller Jahre verirrt. Dass es Hartmann um die figurenreiche Gesellschaftskritik, um das Sittenbild Russlands in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht zu tun ist, belegt Niklas Wetzel indirekt mit einem atemlosen, sinnentlehrten Wortschwall aus einer der zahllosen eher anekdotischen Romanpassagen, die die Bühnentechnik zudem im ansteigenden Soundtrack einfach untergehen lässt.

Unter Szenenapplaus beendet der junge Schauspieler seine Tirade mit letztlich völlig tonlosen Lippenbewegungen. Geradezu selbstironisch anschaulich bringt Hartmann hier mit den Mitteln des Theaters die Literatur zum Schweigen. Es geht ihm nicht wirklich um die Geschichten der Rivalen Myschkin und Rogoschin, nicht um ihre Liebschaften mit Nastassja und Aglaja. Es geht, in zum Teil langen Monologen, um die Verkündigung metaphysischer Notlagen der einzelnen Figuren.

Eine Kreuzigungsszene

Nachdem im ersten Teil noch Momente einer melancholischen, ja fast sentimentalen Weltverlorenheit zu sehen waren, steigert sich der Abend in seiner Mitte dramatisch zu einem mächtigen christlichen Opferbild. Da hängt Linda Pöppel blutüberströmt an Seilen weit über der Bühne und stellt die zentrale Frage des Abends.

„Man zeige mir eine die gegenwärtige Menschheit verbindende Idee. Man…, man, he he, zeige mir eine die gegenwärtige Menschheit verbindendä Idää. Man zeigä mi einä gegenwähdigä Menschheit dandadäh.“

Nach ihrer Kreuzrede über die Abwesenheit religiöser Letztbegründungen wird die Schauspielerin leblos irgendwo in Plastikfolie abgelegt, ein nackter Elias Arens liegt auf Manuel Harders Schoß, ihren müden Dialog unterbricht Ruth Reinecke mit einer lebenspraktischen Ermahnung: „Linda friert“. Die nun folgende Grablegung begleitet eine clowneske Erregung über Elias Arens Nacktheit. Da fällt ein Dame immer wieder wie im Slapstick demonstrativ komisch in Ohmacht. Am Ende der Szene steht ein Bildzitat. Hans Holbeins berühmtes „Der Tote Christus im Grabe“ wird reenacted: Linda Pöppel liegt flach auf einem geraden Podest. Holbeins bitter realistisches Totenbild hatte Dostojewski tief bewegt. Und er brachte es in die Ideenwelt seines Romans ein. An ihm hängt auch die Frage nach dem Heilsversprechen eines verweltlichten katholischen beziehungsweise des spirituell orthodoxen Christentums. Für Momente ist die Aufführung wirklich im Herzen der Dostojewskij-Welt angekommen, nur um dann wieder in die Niederungen der Tagespolitik auszubüchsen. Lautes Geknalle aus Schreckschusspistolen soll wohl an das Waffendesaster beim Westerndreh mit Alec Baldwin gemahnen, an den Einbruch des Realen in die Fabrikation filmischer Wirklichkeiten. Immer wieder bricht sich auch bei Hartmann das Reale mit der theatralen Realität. Und kurz ergibt das auch wieder starke assoziative Bilder. Aber der unentwegte Wechsel von Geschwätz und Predigt, von Hampeln und Handeln ermüdet, weil er diesmal keinen dramatischen Bogen, keinen suggestiven Flow erzeugt.