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René Pollesch am Deutschen Theater
Theater und Trance
von Eberhard Spreng

Noch ein Jahr wird Berlin auf den neuen Intendanten an der Volksbühne warten. In der Zwischenzeit ist er am Deutschen Theater angedockt, wo René Pollesch sein „Melissa kriegt alles“ inszeniert: Eine Theatermeditation zwischen Brecht, Diderot und Gena Rowlands.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 30.08.2020 → Beitrag hören

Foto: Arno Declair

Was Theater ist und wie Schauspiel funktioniert, war eigentlich ja immer schon das zentrale Thema in René Polleschs Arbeiten. Warum das Publikum gebannt den Akteurinnen und Akteuren folgt, obwohl es doch weiß, das da nicht das wirkliche Leben abläuft, sondern ein künstliches Nachspielen, hat er immer wieder im Clash von Show, Boulevard und tieferer Bedeutung erkundet. Diesmal unterlegt Pollesch seine Reflexionen mit Motiven aus Brechts „Die Mutter“, mit Meditationen über das Verhältnis von Theater und Trance und das Paradox des Schauspielers. Aber damit sind nun nicht nur Überlegungen eines Philosophen der Vergangenheit gemeint: Diderots Forderung nach einem reflektiert distanzierten Spiel der Akteure, sondern die Tatsache, das Schauspielerinnern und Schauspieler bei allem, was sie spielen auch das mitspielen, was sie nicht spielen, das Abwesende gewissermaßen, und ein Leben im Leben:

„Es gibt das Leben, und dann gibt es aber nicht den Tod sondern noch ein Leben. Schauspielerinnen kennen das ja auch: Theoretisch gibt es auch ein Spielweise, die so eine Deckungsgleichheit erzeugt mit dem Gefühl und einer Äußerung.“

Die Erkenntnis des amerikanischen Psychotherapeuten Erickson, dass Menschen auch in Hypnose versetzt werden können, wenn man sie mit einander widersprechenden Aussagen konfrontiert, wird in die Debatte geworfen. Auch von Gena Rowlands ist die Rede, die Schauspielerin in Cassavetes „Opening Night“, bei der sich die Krise des eigenen Lebens mit der Krise ihrer Figur vermischt, bis sie schließlich in einer genialischen Improvisation ihre Ensemblekollegen an die Wand spielt.

Wegen Corona ist das Publikum zwangssediert – auch das Ensemble?

Beim Eintritt des Publikums in den ausgeweideten Zuschauerraum und beim Warten auf den Beginn der Aufführung war auf einer Leinwand hinter der Bühne ein Filmausschnitt mit einem vollbesetzten Theatersaal zu sehen, ein wogender, aufbrausender, begeisterter Kontrapunkt zum von Corona zwangssedierten Publikum des Deutschen Theaters. Und als Kontrapunkt ist auch Polleschs Inszenierung zu verstehen: Kontrapunkt zum abenteuerlichen Boulevardtheater der Gena Rowlands und zum weltverändernden, pädagogischen Projekt von Brechts Lehrstück. So ist Nina von Mechows klapprige Bühne allenfalls ein blasser Kehraus des vergangenen Theaterglanzes: Zwei kleine Räumchen mit Hammer-und-Sichel-Tapete, knallrotem Tisch und Stühlen. Mehrfach werden die dünnen Wände dieser Innenräume auf den Boden geklappt und irgendwann wieder aufgerichtet. In einigermaßen phantastischen Kostümen tritt das Ensemble auf: Ein mit Zeitungsartikeln bedrucktes Nachthemd und eine Trappermütze kleiden Martin Wuttke, ein knallrotes, schulterfreies Kleidchen trägt Kathrin Angerer. Eine Pole-Dance Stange dient gelegentlich für neckisch akrobatische Momente. Anders als in vorangegangenen Arbeiten ist hier der naive Spaß am Spiel mit Showelementen aber nicht mehr zu erkennen. Wir beobachten einen Berufsstand in existentieller Krise.

„Also ich gehe manchmal auch zu Castings. Und dann ist da der Regisseur und man unterhält sich und dann sagt der : ‚Ja, genau so, so müsstest du das spielen, so wie du dich jetzt gerade mit mir unterhältst“ und vergisst dabei aber völlig, dass in seinem Drehbuch ein Haufen Mist steht.“

Melancholische Spielverdrossenheit

„Melissa kriegt alles“ ist wieder einer der rätselhaften und verheißungsvollen Pollesch-Stücktitel: Aber außer der Andeutung einer möglichen Erbschaft zugunsten dieser Dame ist über die nie auftretende Figur nichts weiter zu erfahren. So dürfen wir den Titel wie alles andere an diesem Abend als Material verstehen: Unverbundene Zeichensplitter, die sich dieses Mal nicht zu kreativen Spekulationen zusammenfinden. Auch trübt eine melancholische Spielverdrossenheit die Aktion. Immer wieder erstarrt die Inszenierung zu festen Bildern, stockt der Fluss der Energien zwischen den Akteuren. Ihre Sprachkaskaden verzahnen sich nicht mehr wie früher zu lustig absurden Gedankenskizzen; hier werden tonnenschwere Monologfragmente durch den Revolutionssalon geschleppt.

„Ich hätte gerne auch mal ne Gesamtansicht von mir. Ich würde mich gerne von außen sehen. Mich sehen. Und hören. Und sagen: Da! Da spricht was! Was kaputt ist.“ Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen Denken und Leben? Das denke ich manchmal. Aber mehr Verbindung kriege ich dann auch nicht hin.“

Wann immer man Polleschs Denkwelten weiter folgen will, reißt der Gedankenfaden wieder ab, wird aus dem Spiel mit der Philosophie Spielerei, und aus dem Reden Gerede. Zu Beginn der Spielzeit steht am Deutschen Theater ein skeptischer Abend, keine Gefühl von Neuanfang, sondern theatraler Nebensächlichkeit.