Nanterre-Amandiers
Zur Neueröffnung ein Märchen
von Eberhard Spreng
Farbgeruch liegt in der Luft im Théâtre des Amandiers. Über vier Jahre wurde das legendäre, einst von Patrice Chéreau geführte Theater in Nanterre renoviert und umgebaut. Erste Premiere jetzt ist Joël Pommerats neue Arbeit „Les petites filles modernes (titre provisoire)“.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 20.12.2025 → Beitrag hören

Ein riesiger dunkler Tunnel ist das erste Bild auf der Bühne des Théâtre des Amandiers. Am Ende dieses Tunnels werden zwei winzige Gestalten erkennbar. Sie wirken wie gerade angekommen aus einer anderen Welt, oder einer anderen Zeit.“ Und tatsächlich kündigt der Epilog in Joël Pommerats neuem Stück eine Geschichte jenseits unseres Raum-Zeit-Kontinuums an:
„In anderen Dimensionen der Leere könnte es dermaßen andere Welten geben, dass sie der Beschreibung trotzen würden. Dort hat das, was wir Zeit, Distanz, Gewicht, Licht, Schatten oder Stille nennen, keine Bedeutung.“

Die beiden Gestalten vom Anfang sind zwei Schülerinnen an einem Collège in der französischen Provinz: Jade, wohl behütet in reicher Umgebung aufgewachsen ; und Majorie, eine renitente Außenseiterin mit jungenhafter Allüre. Marjorie habe Jade belästigt, heißt es zu Beginn des Stücks und sei daher der Schule verwiesen worden. Das hindert die beiden nicht, auf einer Wahrnehmungsebene jenseits unserer Welt“ eine quasi übersinnliche Freundschaft zu entwickeln. Die Begegnungen der beiden in Jades Zimmer sind deren Eltern ein Dorn im Auge; ihre ermahnenden Stimmen sind dumpf zu hören. Das Publikum erfährt die äußere Welt der Erwachsenen, der Eltern und eines Lehrers, nur im Ton und als eine fortwährende Störung der jugendlichen Emotionalität. Für Momente dürften sich auch die Erwachsenen im Théâtre des Amandiers an ihre Jugend erinnern, wenn nichts mehr nervt als die eigenen Eltern. Jade und Marjorie jedenfalls weichen dem aus, indem sie neue Welten erfinden.
„In deinem Traum war es so, als wärest du zugleich auch ich…“ sagt da Marjorie. In einer zauberhaft inszenierten kleinen Szene spielt Marie Malaquias im Wechsel sich selbst und ihre Freundin. Und Coraline Kerléo steht daneben und schaut wie von Außen auf das Verhältnis der Beiden. Die Andere ist Spiegelbild des eigenen jugendlichen Selbst, das Märchen ist Behältnis für die Gefühlswelt, die Phantasmagorie ist Metapher für die eigenen Dämonen.

Eine bedrückende Alptraumszene erzählt von einer Strafe, die zwei Liebende in einer Welt erleiden, in der die Liebe das schlimmste aller Vergehen ist. Die Eine ist auf immer in ewiger Jugend in einem Blechkasten gefangen, während der Andere immer älter und gebrechlicher wird und dem Tode entgegendämmert. Schnell wechseln die Bilder in Auf- und Abblenden vom Traum zu Jades Zimmer, von der Realitätsebene ins Imaginäre hin und her. Träume entstehen in Träumen, das Spiel der Beiden ist Experimentierfeld für Wünsche und Varianten der eigenen Persönlichkeit. Ein Coming of Age als Märchensammlung.
Die Bühnenbilder sind die kunstvolle Fusion von Videoprojektion und Bühnenobjekten. Was Gegenstand ist und was nur Projektion, verwischt die Bildregie meisterhaft. Ein über Lautsprecher im ganzen Saal verteilter Soundtrack schafft eine immersive Atmosphäre. Das verstärkt den Eindruck, hier wolle das Theater eine vierte Dimension erobern. Das Geschehen auf der Bühne soll mit der Imagination in den Gehirnen des Publikums verschmelzen. Technisch ist das meisterhaft und ausgeklügelt.
Vor fünf Jahren hatte Joël Pommerat in seinem Stück „Contes et Légendes“ die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen studiert und dabei KI und Roboter als Spielpartner eingesetzt. Das gelang phänomenal, war eine einmalige Studie der jugendlichen Sprach- und Gefühlswelten. Nun aber ist es eine pure Märchenwelt, die der Erkundung von Geschlechts-Identität und emotionaler Emanzipation dient. In den Traum findet die Aufführung schnell hinein, vertieft sich immer mehr darin, verliert sich dann aber schließlich und findet am Ende nicht mehr zurück ins reale Leben.