Festival in Avignon
Gerecht ist nur ein Pferd
von Eberhard Spreng
John Maxwell Coetzees 2003 erschienener Roman „Elizabeth Costello“ erzählt von einer intellektuellen Nomadin auf globaler Vortragsreise. Mit teilweise schrillen Extrempositionen inszeniert sie sich als moralische Instanz. Krzysztof Warlikowskis bildgewaltige Inszenierung leutete im Papstpalast die letzte Festivalwoche ein. Aber Highlights waren eher andere Arbeiten.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 18.07.2024 → Beitrag hören
Der Autor und sein Double begegnen sich auf der Riesenbühne des Papstpalastes: Elizabeth Costello tritt allerdings als multiple Figur unterschiedlichen Alters auf. Sie wird in einem langen vierstündigen Bilderbogen von sechs Schauspielerinnen und einem Schauspieler gespielt. Nur der Autor ist immer derselbe. Oft steht er am Rand des Geschehens, schildert als Erzähler die Umstände, entwickelt ein manchmal sogar sadomasochistisches Verhältnis zur von ihm erfundenen Figur oder knurrt und bellt wie ein Hund ins Spiel hinein.
Wir sehen das vorzügliche Ensemble des Warschauer Nowy Teatr also als Illustration für die Figuren einer Erzählung aus dem Off, und dann wieder als deren Handelnde. Warlikowskis Theater, das Costellos Leben und Denken mit verblüffender Bildermacht begleitet, behandelt das Essayistische eher beiläufig. Die Auseinandersetzung der Protagonistin mit Alter und Sterben betont der Regisseur – als ein Wachsen zum Tod. Aber: Die fein ausgesponnenen Denkfiguren der etwas geschwätzigen Aufführung werden im riesigen Freilichtspielraum vom Winde verweht, ganze Publikumgruppen wandern vorzeitig ab, das erwartete Festivalhighlight ist das nicht.
Das war eher im „Leviathan“ von Lorraine de Sagazan zu sehen, die sich mit den Schnellverfahren der französischen Justiz befasst. Eine Erzählerfigur führt zu Beginn der Aufführung in die Thematik ein:
„Sechzigtausend Verfahren sind das pro Jahr in Frankreich, Tendenz stark steigend. Zu Beginn war das Verfahren für Ausnahmefälle. Aber es ist zum Standardverfahren geworden.“
Immer öfter werden dort Menschen für geringfügige Delikte gleich nach der Untersuchungshaft abgeurteilt. In Masken treten Richter, Staatsanwalt und Pflichtverteidiger auf, wie ein ritualisiertes Puppentheater. Wir erleben eine problematische Justiz, die ihre leidgeprüften Angeklagten von den Rändern der Gesellschaft zermalmt. Sie straft, wo sie mit sozial-psychologischen Ansätzen helfen müsste. Lorraine de Sagazan stellt die philosophische Frage nach der Gerechtigkeit des Rechtssystems in einer cirzensischen Bildwelt: Über dem Gerichtssaal erhebt sich ein auf- und ab atmendes Zirkuszelt, den Boden bedeckt Erdreich. Und plötzlich taucht ein leibhaftiges Pferd auf, knabbert an Gesetzestexten auf dem Tisch der Richterin, bringt Dossiers durcheinander. Eine ganz eigene Regiehandschrift, die wichtige rechtsphilosophische Fragen im Gewand des Surrealen stellt.
Die Frage nach Gerechtigkeit war eine der Themensetzungen in einem sehr politischen Festivalprogramm, das fast alle Formen gesellschaftlicher Diskriminierung abgearbeitet hat: Also Rassismus, Sexismus, Klassismus und ihre Schnittmengen. Aber eher selten haben sich die Künstlerinnen und Künstler aus dem politischen Kraftfeld ihrer Thematik befreien können und in poetische Freiräume vorgearbeitet. Am Ende beklatscht das Publikum dann mitunter seine eigene Awareness und korrekte politische Haltung. In einem von den Ultrarechten gebeutelten Land mag man das verzeihen. Auch der Ausblick aufs nächste Jahr, den Direktor Tiago Rodrigues schon zu Begin der letzen Festivalwoche gab, verspricht da eine Fortsetzung. Die Gastsprache wird dann das Arabische sein, die Sprache also einer Minderheit, die der Rassemblement National im Fokus hat. Der legendäre Ex-Kulturminister und Leiter des dann kooperierenden arabischen Kulturinstituts Jack Lang ist begeistert.
„Ich liebe dieses Land. Weil Frankreich es über die Jahrhunderte verstanden hat, Sprachen, Kulturen und Religionen miteinander zu verflechten. Entgegen der Diskurse einer hasserfüllten Partei, die Klischees, Unkenntnis und Verachtung kultiviert. Sich gerade jetzt für das Arabische als nächster Gastsprache zu entscheiden, ist eine großartige Idee.“
Jack Langs in politischer Rhetorik geschulter Kommentar skizzierte eine Gegenerzählung zum neu-rechten Kulturdiskurs. Gegenerzählungen, wenn’s geht begeisternde, genau das sollte eine Kulturschau wie das Festival d’Avignon leisten.