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Milo Rau inszeniert Medea in Gent
Betreutes Spielen
von Eberhard Spreng

Nach „Orest in Mossul“ und „Antigone im Amazonas“ beschließt Milo Rau seine Antiken-Trilogie mit „Medea’s Children“ verbindet das mit einem modernen Stoff und läßt Kinder die Hauptrollen spielen. Am NTGent ist das Auftakt zu einer großen Reihe mit den 32 überlieferten griechischen Tragödien.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 19.04.2024 → Beitrag hören

Foto: NTGent

Sieben Stühle stehen vor dem Vorhang. Und vor ihnen steht der Schauspieler Peter Seynaeve und behauptet, dass es jetzt, nach der Aufführung, mit den Kindern ein Publikumsgespräch geben werde.

“This is a special evening, normally we don’t do after-talks with the children …”

Ein Verwirrspiel, denn zu diesem Zeitpunkt hat noch keiner im Saal die Aufführung gesehen. Noch bevor von der grauenhaften Tragödie um Medea und ihre Kindern die Rede sein kann, sollen die Akteurinnen und Akteure vorgestellt werden. Altklug, pubertär-gelangweilt oder abgeklärt, sind diese Darstellerinnen und Darsteller im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren zunächst einmal Kinder. Dass sie während der Proben psychologisch begleitet wurden, beeilt sich Seynaeve zu erklären. Milo Rau will nach den Debatten um seine Arbeit mit Kindern hier gleich das Erregungsrisiko niedrig halten. Wir sehen betreutes Spielen und es stellt sich die Frage: Was bleibt von der wilden blutigen Tragödie, wenn sie von lauter Pädagogik eingehegt ist? Zunächst einmal ein neckisches Spiel am Strand, zu sehen auf einer Filmleinwand. Ein lustig-gruseliger Drachen hat den in grobe Felle eingehüllte Jason schon zu Boden geworfen, da kommt eine wilde junge Medea dem griechischen Helden zu Hilfe und tötet das Fabelwesen mit heftigen Hieben. Ironisch operettenhaft ist der Einstieg in die Geschichte. Immer wieder wird das Bühnenspiel, das von Videobildern gedoppelt wird, unterbrochen. Fragmente der Medeahandlung verschränken sich mit einer zeitgenössischen Kindermordgeschichte: Eine Mutter tötete ihre Kinder aus Verzweiflung über ihre gescheiterte Ehe mit ihrem marokkanischen Mann.

Dessen Vorgeschichte als kleiner marokkanischer Junge wird erzählt, missbraucht von einem Europäer, eine fatale Verstrickung, die ihn auch als Erwachsener und Familienvater nicht loslässt. Einige schöne Bilder entstehen: Peter Seynaeve fängt sie in und um eine kleines Häuschen am Bühnerand ein. Diese Videobilder verknüpfen die Handlung des Kinderensembles auf der Bühne mit vorher entstandenen Bildern alter Darsteller. So verschmelzen Pose und Gesichter der jungen Akteurinnen und Akteure mit den gleichförmigen Bildern alter Menschen. So führt Milo Rau Jugend und Alter in eine einzige tragische Schicksalsgemeinschaft zusammen. Im Programmheft behauptet er, die alte griechische Tragödie habe als Ritual nichts anderes zum Ziel gehabt als das Herstellen von Gemeinschaft.

Foto: NtGent

In den besten Momenten schafft es die Aufführung tatsächlich, ihr junges Ensemble aus dem gesellschaftlichen Schutz- und Bevormundungsraum „Kindheit“ in die blutigen Abgründe des Erwachsenseins zu entlassen, ohne sie in Gefahr zu bringen. Dann aber wechselt das Theater auf Neue das Register: Mit unerträglicher Detailtreue dokumentiert die Kamera nun das Bühnereenactment der zeitgenössischen Kindermordgeschichte. Ein langes Messer fährt in Großaufnahme durch die jungen Kehlen, Blut fließt, das Publikum stöhnt, leidet und wendet den Blick von der Bühne ab. Wie in Filmen des Österreichers Michael Haneke ist in Gewalt, Leiden und Sterben nichts unterhaltendes; sie sind auch in ihrer medialen Spiegelung unerträglich. Aber mit diese Erschütterung soll das Publikum nicht entlassen werden.

“Dans les yeux de ma mère il y a toujours une lumière… ”

Die schillernd ambivalente Liebeserklärung des flämischen Chansoniers Arno an seine Mutter, hingehaucht von der Jüngsten im Kinderensemble. Der letzte Teil der Aufführung ist Epilog und Versöhnung zugleich. Milo Rau lässt sein junges Ensemble über die grundsätzliche Chance von Zukunft meditieren. Diese Medea versteht sich als der dritte Teil einer Antikentrilogie, nach „Orest in Mossul“ und „Antigone im Amazonas“. Es ist aber auch eine weitere Aufführung, in der der Schweizer Regisseur mit Kindern arbeitet. Acht Jahre nach den teilweise umstrittenen „Five Easy Pieces“ um den Kindermörder Marc Dutroux ist vom Tabubruch kaum noch etwas zu erleben. Medeas Kinder haben sich emanzipiert, sind nun nicht mehr Opfer, sondern selbst Handelnde.