Uraufführung am NTGent
Gott ist ein schwarzes Loch
von Eberhard Spreng
Zuletzt hatte der Schweizer Aktivist, Autor und Regisseur Milo Rau an seinem Theater in Gent mit „Family“ den kollektiven Selbstmord einer Familie nacherzählt und die Frage nach Schuld und Erlösung gestellt. „Grief and Beauty“ ist nun der zweite Teil der neuen „Triogy of private life“. Im Zentrum steht Johanna B., die sich entschlossen hatte, ihrem Leben ein lange geplantes Ende zu setzen.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 23.09.2021 → Beitrag hören
Deutschlandfunk, Kultur – 22.09.2021
Am Ende stehen in Milo Raus neuer Arbeit über die Trauer und die Schönheit drei Bilder, die dem weit ausgreifenden Titel gerecht werden. Wir sehen auf einer Videoleinwand, wie eine alte Frau in ihrem Bett milde dahinstirbt. Dann entschweben die Wände des Dekors ins Dunkel des Bühnenturms, so als ginge statt der Seele des Menschen seine äußere Welt dem Himmel zu, woraufhin ein gleißendes Licht sich seinen Weg durch Bühnennebel in die Augen des Publikums bahnt. Das denkt wahrscheinlich, hier und jetzt im Theater der Ansicht Gottes teilhaftig zu werden und lauscht derweil einem Gespräch über schwarze Löcher im Universum. Dass sie alles in sich aufsaugen und in elementare Energie verwandeln, sagt man. Diese Energie sei aber, wie neueste Aufnahmen der Astrophysiker nahe legten, wie ein Horizont um die schwarzen Löcher noch einmal zu sehen. Die schwarzen Löcher seien so etwas wie ein Archiv aller Dinge. Das Theater feiert eine weltliche Epiphanie, ein Bild für eine eigene kosmische Letztbegründung. Wenn man also Milo Raus neue Arbeit vom Ende her erzählt, versteht man auch, was all seine kleinen Geschichten und Geschichtchen davor zusammen halten soll. Das Kleine, das Nichtige ist nicht unwichtiger, als die große Geschichte; alles wird bewahrt. Nun aber von vorne, auf dem Weg durch Diverses und Verstreutes.
“Johanna loved classical music, all of her life, she sang in a choir…”
Zu den bitterschönen Celloklängen aus Purcells Dido und Aeneas hören wir Teile der Lebensgeschichte von Johanna, wie sie uns von Princess Isatu Hassan Bangura auf der Vorderbühne erzählt wird. Die aus Sierra Leone stammende Performerin ist Teil des vierköpfigen Ensembles. Sie alle umranken mit ihren biographischen Erinnerungen eine zentrale Erzählung: Die über achtzig Jährige Johanna B. hat ihrem Leben Ende August diesen Jahres im Kreise ihrer Angehörigen ein Ende gesetzt. Sie wollte kein Siechtum, kein Leiden am Ende des Lebens und hatte diesen letzten Schritt seit zehn Jahren vorbereitet.
Auf einer Videoleinwand hoch über einem Dekor aus allerlei Plunder und schmucklosen Kulissenwänden sehen wir diese Frau immer wieder lebhaft reden, sehen ihr Lächeln, ihr Lachen. Aber ihre Stimme ist nur am Ende mit einer programmatischen Erklärung zu Fragen der Euthanasie auch zu hören. Auf der Bühne darunter sind allerlei alltägliche Verrichtungen zu sehen, die Pflege eines alten Mannes, den Gustaaf Smans spielt, eine ehemaliger Buchhalter, der in seiner Rente zu seiner Leidenschaft, dem Schauspiel fand. Oder Anne Deylgat (Anne Dellchat), die als Veterinärin in der Lebensmittelindustrie arbeitete und sich nun insbesondere mit dem Leben von Wölfen beschäftigt.
Wie immer in Milo Raus sensibler Regie wird selbst das Heulen von Mensch und Cello nicht lächerlich. Es ist wie alles andere ein mit heiligem Ernst performtes Partikel in einer Sammlung aus Beobachtungen, Reflexionen und Lebenserinnerungen, die allesamt in der Regel etwas anderes seien sollen, als tragisch oder auch nur dramatisch. Wie sich die Dinge des Lebens und auch die letzten Dinge im Beiläufigen einfangen lassen, will der Autor und Regisseur in seiner neuen Trilogie des privaten Lebens erkunden.
“Mijn kind is tot, mijn kind is tot”
Da wird von der Beerdigung eines Kindes erzählt, die zufällig von dem schneidenden Ton einer Alarmanlage gestört wird. Ein an sich unschöner Zufall, aber für die trauernde Mutter, wie sie sagt, doch auch der passende Ton für das, was sie empfindet. Maximal tragische Inhalte sollen auf minimal dramatische Formen stoßen. Und wie so oft verbinden sich bei Milo Rau dokumentartheatrale Erkundungen, die sich an die Gehirne im Publikum richten, mit emotional aufgeladener Musik aus dem klanglichen Gefühlsbaukasten. Raffinierte Medienreflexion fürs Auge, klangschöner Mainstream fürs Ohr.
Wie kommen wir an sich empathiefähigen Menschen an diese eine, radikal einsam erlebte Erfahrung des Todes heran? Wie können wir etwas mitempfinden, das nicht miterfahren werden kann? Das ist die zentrale Frage um Tod, Trauer und Schönheit an diesem Abend. Er umkreist sie, und findet keine Antwort. Bis dieses eine Videodokument von einer sterbenden Johanna B. unser Mitempfinden auf die Probe stellt, unser Auge und vor allem unsere Atmung. Nicht mehr leben, vielleicht heißt das: Nicht mehr atmen.
Soviel zur Trauer. Aber die Schönheit? Immerhin heißt es im Titel „Grief and Beauty“ Sie ist bei Rau immer schon zu hören, nun soll sie mit dem Eingangs erwähnten Mutwillen der Regie auch ins Bild kommen. Das Pathos der Bühnentechnik greift ins Grandiose aus und beendet einen stillen, beiläufigen Abend in szenischer Opulenz. Der kosmische Gott ist für diesen zutiefst religiös empfindenden Regisseur diesmal ein Deus ex Machina.