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Milo Rau in Gent
Schuld und Erlösung
von Eberhard Spreng

„Familie“ ist der dritte Teil einer Trilogie von Milo Rau über moderne Verbrechen: Nach „Fife Easy Pieces“ über den Kindermörder Marc Dutroux und „La Reprise“, das einem homophoben Mordfall in Lüttich nachging, will „Familie“ einen mysteriösen Familienselbstmord aus dem Jahre 2007 erkunden. Gespielt wird das von einer leibhaftigen Schauspielerfamilie.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 05.01.2020 → Beitrag hören

Mutter und Töchter, der Vater allein im Nebenraum
Foto: Michiel Devijver

Ein Glashaus liegt in nächtlichem Dämmer, gelegentlich huscht das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos über Sofa, Esstisch, Kücheninsel. Dann zwitschern die Vögel. Und erst dann bevölkert sich das Eigenheim allmählich mit seinen Bewohnern. Eine der beiden jugendlichen Töchter klebt Erinnerungsfotos an eine Wand im Badezimmer, Zeugnisse glücklicherer Zeiten. Dann erzählen Töchter und Eltern von den kleine Vorlieben, den kleinen Dingen des Lebens. Der Geruch von warmen Asphalt, wenn Regen auf ihn fällt, oder andere kleine Wahrnehmungen, individuelle Gewohnheiten und private Eigenheiten.

Zu dem sehr stillen und fast leblosen Beginn in Beiläufigkeiten ertönt Leonard Cohens „Who by Fire“, in dem der kanadische Poet und Sänger seine Version eines wichtigen Gebets des Jom Kippur Festes zelebriert. Um die Hoffnung auf die Vergebung der Sünden soll es ganz insgeheim und unausgesprochen in Milo Raus „Familie“ gehen, um die ganz großen Dinge des Lebens also. Einen kurzen eineinhalbstündigen Theaterabend lang mischen sich diese unausgesprochenen, diese ganz großen Fragen des menschlichen Lebens wie ein Gift in die ganz kleinen Nichtigkeiten des Alltags. Vater kocht an der Kücheninsel, die Töchter üben englische Vokabeln im Wohnzimmer daneben: eine will in England Kinderpsychologie studieren. Die Mutter ist im Bad.

An Miller und Filip Peeters und ihre beiden Töchter spielen erstmalig zusammen auf der Bühne
An Miller und Filip Peeters und ihre beiden Töchter spielen erstmalig zusammen auf der Bühne. Foto: Michiel Devijver

In ein Glashaus sind all diese Innenräume eingefasst, der Blick des Publikums fällt hinein wie in ein Terrarium. Aber wie konzentriert auch immer es da hineinstarrt, aus dem Verhalten der vier Kreaturen ist eine psychologische Begründung für den Familienselbstmord am Ende nicht zu holen. Auch nicht aus dem verkrampften Abendessen, das die Teenager natürlich fürchterlich finden und an dem die Eltern als einstmals fröhlichem Familienritual immer noch hängen. Die eine Tochter stochert lustlos im Teller herum, die andere fingert an einer Kerze, bis die Mutter sie anfaucht und sich sofort entschuldigt für diese Unbeherrschtheit. In einer Soloszene ahnt der Vater einen Grund für die jugendliche Revolte.

Anders als in seinen bisherigen dokumentar-theatralen Arbeiten hat Milo Rau hier kein Familien-Re-Enactment inszeniert. Auch wenn Theaterfamilie Peeters eine Recherchereise zu den Nachbarn der Selbstmordfamilie unternahm: Es ist nicht das Ziel, die Demeesters aus Coulogne auf die Bühne zu bringen, deren dreißigjähriger Sohn vor der Tat als selbstständiger Paketausfahrer gerade eine Firmenpleite erlebt hatte und deren ebenfalls volljährige Tochter ihre Arbeitsstelle mit dem Vorwand verlassen hatte, sie sei an Darmgrippe erkrankt: So als gäbe es eine innere Stimme, die ihr befahl, zum Selbstmordritual pünktlich zu erscheinen.

Psychogramm der dystopischen Gesellschaft

Hier geht es nicht um Rekonstruktion des rätselhaften Einzelfalls aus der Wirklichkeit, sondern um Beispielhaftigkeit einer generellen, ja zivilisatorischen Todesverhaftung: Welchen Sinn das Leben angesichts der kommenden Umweltkatastrophe noch mache, fragen die Töchter im Theater. Aber ein Psychogramm des Desasterkapitalismus’ ist hier nicht zu erleben. Wie aus einem dystopischen Lebensgefühl, das sich Zukunft nur noch als Untergang vorstellen kann, der Entschluss zum Gruppenselbstmord wird, ist hier nicht zu erfahren. Umgekehrt aber auch nicht, wie im wirklichen Leben, wie in Coulogne, aus der depressiven Veranlagung von Vater und Sohn der einvernehmliche Selbstmord einer verschworenen Familie wird, die sich seit Wochen von der Gesellschaft abgekapselt hatte. Psychologie und Philosophie liegen in Milo Raus neuer Arbeit im unauflöslichen Streit.

Die Mutter will die Töchter zum Selbstmord zwingen
Foto: Michiel Devijver

Ganz am Ende, nachdem die Mutter die widerspenstigen Töchter mit Gewalt in den Raum mit den vier Stricken zerren wollte, bevor diese dann aus eigenen Entschluss einwilligen, erklärt die ältere Tochter zu Rameaus „Tristes Apprêts“ die Kleiderordnung: Wie Bräute, bereit zur Hochzeit mit dem Tode, sind sie nun gekleidet, wie ein Engel die Mutter, wie ein aufrechter, prinzipientreuer Bürger der Vater. Ein letztes Familienbild gruppiert Milo Rau auf der Vorderbühne, bevor er seine Todesfuge vollendet. Aber auch in dieser Schlussphase ist noch einmal von den Erinnerungen an die kleinen Dinge des Lebens die Rede. Wenn wir leben wollen, dann sollten wir an ihnen festhalten und die ganz großen Fragen besser gar nicht stellen. Aber aus der Schuld entlässt uns Milo Rau trotzdem nicht: Eine tiefe Schuld und eine große Sehnsucht nach Erlösung habe die Familie in Coulogne angetrieben, behauptet eine Schrifteinblendung. Der schweizer Regisseur wird im katholischen Flandern, in seinem Theater zwischen der Sankt Nikolaus und der Sankt Bavo Kathedrale von Inszenierung zu Inszenierung immer religiöser.

Die bisherigen Teile der Trilogie:
Fife Easy Pieces
La Reprise