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Milo Raus „Antigone“ in Gent
Im Staub des Untergangs
von Eberhard Spreng

Schon 2020 sollte Milo Raus Stück über die brasilianische Landlosenbewegung MST nach Europa kommen, aber der Ausbruch der Covid-19 Pandemie verhinderte alle Reiseaktivitäten. Nun kam „Antigone in the Amazon“ am belgischen NTGent zur Uraufführung.

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Foto: Kurt van der Elst

Vertrocknete, braune Erde bedeckt die Bühne und einmal, wenn Polyneikes niedergeworfen wird als Vertreter für die unterdrückten und massakrierten Landlosen in der brasilianischen Provinz Pará, staubt es heftig im gleißenden Licht eines Scheinwerfers. Das also, so begreift das Publikum, ist das Bild des Verbrechens, das König Kreon und die reiche westliche Welt am Amazonas verübt: die Verwandlung eines gewaltigen Biotops in einen unfruchtbaren Boden. In einer solchen Landschaft hat Milo Rau in einer ergreifenden Szene das Massaker nachstellen lassen, das die Militärpolizei am 17. April 1996 an demonstrierenden Landlosen verübte. Sie steht als filmisches Monument am Anfang von „Antigone in the Amazon“

„Es ist nötig zu schreien“ hatte Milo Rau der Presse erklärt und gleich zu Beginn schallt dieser Schrei wie ein Appell vom lateinamerikanischen Kontinent in den europäischen Kulturbetrieb. Ist die antike Tragödie nur Folie für Milo Raus politisches Eintreten für die Landlosen? Ist deren Kampf die Folie für noch eine Version des derzeit oft gespielten Stückes? Innerhalb seiner „Trilogy of the Myths“, die hier zum Abschluss kommt, hatte der Regisseur und Aktivist immer wieder das Theater auf seine Fähigkeit hin untersucht, das Ungeheure gegenwärtiger Kriege und Unterdrückung zu fassen. Und ein ums andere Mal war es ihm gelungen, den alten Mythos oder den Kern der antiken Tragödie als Wirkmacht in der globalen Gegenwart wieder aufzuspüren.

Theater zwischen Aktivismus und antiker Tragödie

In dieser portugiesisch, englisch und flämischsprachigen Aufführung ist sein Ensemble gespalten in solche, die sowohl im Film als auch auf der Bühne zu sehen sind und dem brasilianischen Teil des Ensembles, das nur auf der Leinwand agiert. In Filmausschnitten erscheint es wie ein Strahlen, das aus der brasilianischen Wirklichkeit in die dunkle Bühne des NTGent leuchtet, allen voran der Chor, der hier als ein politisches Kollektiv zu verstehen ist.

Die Akteurinnen und Akteure auf der Bühne fungieren wie Übersetzer und Vermittler, treten mal mit den Figuren auf der Leinwand in Dialog, mal skizzieren sie einzelne Szenen der Tragödie, mal wieder kommentieren sie die Dreharbeiten oder schildern ihre Erfahrungen bei der Arbeit an dieser Produktion im Norden Brasiliens. Sophokles’ alte Tragödie muss also eine transatlantische Zerreißprobe aushalten und Milo Raus Arbeit ist immer dann am schönsten, wenn die Bruchkanten sichtbar werden, das Unvereinbare, Widersprüchliche des ganzen Vorhabens. Da ist etwa der von Arne De Tremerie gespielte Haimon, der den zürnenden Machthaber Kreon zu Vernunft und Mäßigung überreden will und nicht nur in der alten Tragödie scheitert, sondern auch von den Indigenen im Amazonas nicht verstanden wird. Seine Nachdenklichkeit, Unentschiedenheit ist ihnen fremd.

„I am Haemon, son of a king, son of Kreon, bitternis is my name.”

Der alte Seher Tereisias wiederum wird hier von dem indigenen Philosophen Ailton Krenat gespielt: Vor dem Weltuntergang habe er keine Angst, seine Welt sei schon vor 500 Jahren untergegangen, sagt er und meint damit den Kolonialismus und die Zerstörung indigener Lebensräume: Europa müsse sich vor der Apokalypse fürchten, es sei nicht daran gewöhnt. Kai Sara allerdings, die indigene Aktivistin, die auf der Leinwand die Antigone gibt, tritt hier mit ihrem archaischen Trotz nicht einem halsstarrigen Kreon gegenüber, sondern bleibt eingebettet ins Kollektiv, das den ganzen globalen Kapitalismus zum Gegner hat. Sara de Bosschere ist als Kreon ihrerseits auf der Bühne des NTGent nur ein Dramaturgien reflektierender Rest vom wütenden Autokraten. Der Mythos spricht aus den Filmausschnitten, theatrale Reflexionen aus den physisch präsenten Figuren.

Vieles bleibt materialhaft

Milo Raus Theaterseminar, denn das waren seine ihre Mittel mitreflektierende Inszenierungen ja fast immer, findet das alles erschließende Zauberwort diesmal nicht. Die beiden Teile des Ensembles suchen nach gemeinsamen Anknüpfungspunkten, nach Synapsen der Verständigung und finden sie nur selten. Deshalb bleibt vieles Materialhaft, eine Sammlung emotional aufgeladener Details vom Kampf im Amazonas einerseits, eine Sammlung europäischer Ratlosigkeiten ob des sozialen, politischen und ökologischen Desasters andererseits. In all dem wird aber auch Milo Raus Grundgedanke greifbar, nachdem intellektuelle Erneuerung aus den Wäldern kommen wird und nicht aus den Komfortzonen des autoritären Neoliberalismus.