Milo Rau geht mit La Lettre ueber die Doerfer bei Avignon

Ein Volksstück von Milo Rau
Sendboten aus dem Totenreich
von Eberhard Spreng

Erstmalig vor zwei Jahren wurde ein neuer dezentraler Spielort für das Festival in Avignon in Besitz genommen: ein Garten nahe des Schlosses von Barbentane. Hier präsentiert Milo Rau mit „La Lettre“ eine theatrale Meditation, die sich als Volksstück versteht und bis zum Ende des Festivals über die Dörfer der Region touren wird.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 09.07.2025 → Beitrag hören

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Ein kühler Wind rauscht in heftigen Böen durch die Bäume im Espace Baron de Chabert, einem von einer Mauer eingefassten Garten in einem Dorf im Süden von Avignon. Die Zuschauer sitzen auf losen Stühlen auf dem Rasen; vor ihnen nichts weiter als ein Spielpodest mit einem Tisch, ein paar Scheinwerfern und Lautsprechern. Une pièce commune – ein Volkstück will „La lettre“ – der Brief sein. In ihm begegnen sich der flämische Schauspieler Arne de Tremerie und die französische Schauspielerin Olga Mouak. Der eine will hier „Die Möwe“ von Anton Tschechow aufführen, die andere in die Rolle der Jeanne d’Arc schlüpfen. Und tatsächlich skizzieren die beiden mit einfachsten theatralen Mitteln Fragmente der jeweiligen Handlung.

„Ich wurde geboren, um Frankreich zu retten“ sagt die Schauspielerin, und als Vertreterin der Kirche hören wir in dieser Befragung aus dem Off, zu den vom Winde verwehten Klängen von Arvo Pärt, die sanfte Stimme von Isabelle Huppert. Milo Rau bringt verschiedene Motivebenen in dieser vielschichtigen theatralen Skizze zusammen. Da ist zum einen die politische Situation in Südfrankreich, wo der Front National sehr stark ist und vielleicht nicht erfreut darüber, dass ausgerechnet eine schwarze Schauspielerin wie Olga Mouak ihre Volksheldin verkörpern will. Eine andere, tiefer gehende Schicht sind fiktionale Geschichten über familiäre Motivationen und hierin der Dialog mit der toten Großmutter. Die Verbindung zu den Toten ist ein Hauptanliegen im Theater des Milo Rau.

„Es gibt diesen schönen Ausspruch von Heiner Müller, dass das Theater der Dialog mit den Toten ist. Das ist Zentrum dieser Arbeit, wo die beiden Figuren mit ihren Großmüttern in Kontakt treten: Olga Mouak über die Figur der Jeanne d’Arc. Ihre Großmutter war schizophren und ist in ihrem Haus bei lebendigem Leibe verbrannt. Man weiß nicht, ob es ein Selbstmord war. Aber bei lebendigem Leibe verbrannte auch Jeanne d’Arc.“ *

Was bringt Olga Mouak insgeheim dazu, auf der Theaterbühne aufzutreten? Was Arne de Tremerie ? Seine Grossmutter, so heißt es in „La lettre“ habe einst im belgischen Hörfunk eine Kultursendung moderiert und zeitlebens davon geträumt, in Tschechows Möwe die Nina zu spielen. Sie wird in dieser Aufführung durch die KI vertreten, die aus einem Lautsprecher zu uns spricht. Sendbotschaften aus dem Unterbewusstsein sind die verborgenen Antriebe für das Theaterspiel in der Gegenwart und wie immer in Milo Raus Theater vermischt der Regisseur reales biografisches Material und die Fabrikation von Fiktionen. Mit viel Humor werden nun Teile der Möwe nachgestellt, wobei Enkel Arne den glücklosen Poeten Konstantin Treplev spielt oder besser szenisch andeutet. Menschen im Publikum werden ausgesucht um ein paar Sätze von Nebenfiguren der Handlung zu sprechen.

„Les femmes ne m’ont jamais … никогда женщины“

Da vollendet eine osteuropäische Zuschauerin wohl auch aus Mühe mit der französischen Aussprache den französischen Satz einfach spontan im russischen Original und schenkt der Aufführung so eine völlig unerwartete, weitere Ebene.

Dieses Theater spielt mit Bedeutungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Was ist echt? Was ausgedacht? Was echtes Gefühl? Was nur gespielt? Wenn sich Arne de Temerie mit einem Teppichmesser in die Hand schneidet, wird dies auf die Spitze getrieben: Was echt aussieht, ist ein gut ausgeführter Theatertrick. Ist aber Großmutters Abschiedsbrief, den er am Ende sichtlich angefasst vorliest, wirklich historisches Dokument? In Milo Raus mutwilligen Verwirrspiel kann sich das Gehirn der Zuschauerin und des Zuschauers bei der Fabrikation seiner Vorstellung von Wirklichkeit selbst beobachten und müsste eigentlich erschrecken: Denn es ist allzu leicht bereit, für wirklich zu halten, was nur plausibel aussieht. Und für ausgedacht, was an große Tragödien erinnert. Dieses Mitmachtheater geht jetzt über die Dörfer im Umkreis der Festivalstadt und könnte jedes Mal ein bisschen anders ablaufen. Es will eine offene Form sein, ein Volksstück, das an die einfachen Anfänge des Festivals am Ende der 1940er Jahre erinnert.

*Olga Mouak legt Wert auf die Feststellung, dass Milos Raus Äußerungen über ihre Großmutter unzutreffend sind.