76. Festival d’Avignon
Von bösen Mythen und netten Märchen
von Eberhard Spreng
Vielstündige Mammutvorstellungen haben beim Festival in Avignon Tradition. In diesem Jahr zeigt der junge Autor und Regisseur Simon Falguières mit seinem 13 stündigen „Le Nid de Cendres“ ein siebenteiliges Theaterepos. Premiere hatte aber auch eine Neufassung der „Iphigenie“ aus der Feder des künftigen Festivaldirektors Tiago Rodrigues, die Anne Theron inszenierte.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 10.07.2022 → Beitrag hören
Ein weiter Strand. Im Hintergrund eine formatfüllende Videoprojektion mit wechselndem Himmel, milden Meereswellen. Und einige Figuren, die sich wie Statuen von diesem riesigen Horizont abheben. In dieses, ein wenig gewaltige Bildwerk stellt Regisseurin Anne Théron eine Neufassung der „Iphigenie in Aulis“ von Euripides. Sie stammt aus der Feder des portugiesischen Theatermannes Tiago Rodrigues, der im kommenden Jahr die Leitung des Festivals in Avignon übernimmt. Im hohen, etwas getragenen Tragödienton führt eine der Chorfrauen in die Handlung ein.
(Vous vous fiez…) „Sie vertrauen der Tragödie und ihren Erinnerungen an die Tragödie. Und die endet immer schlecht. Immer wenn wir mit dem Spiel beginnen, wissen wir das schon im Voraus.“
Ein Unwille zeichnet sich auf dieser Tragödienbühne schon von vorn herein ab, ein Widerstand gegen ein mythologisches und theaterhistorisches Erbe, das mit Euripides auf die abendländische Kultur gekommen ist : Die mythologisch verbrämte Geschichte eines Frauenmordes aus machtpolitischen Gründen. Von der Handlung wird erzählt, als wäre es eine Vergangenheit, die zu überwinden ist. Das ist einmal keine simple Stück-Überschreibung, keine Übersetzung in zeitgenössische Befindlichkeiten und Sprache. Dieses Stück macht den Versuch, den Mythos und das dramatische Erbe in seinem narrativen Kern anzugreifen. Während sich also Agamemnon und Menelaos um die Frage streiten, ob Iphigenies Opferung wirklich Teil der griechischen Geschichte werden muss, macht der Frauenchor mit seinen Einsprüchen deutlich, dass er nur im Zorn das alte Geschehen nachstellt. Dieses Theater ist psychologisch genau, tilgt die Götter als Veranlasser des Familienschlamassels aus den Begründungszusammenhängen und stellt die Frage wie das Geschehen sittlich und moralisch zu begründen ist.
„Je me souviens qu’il y a un long silence, si long que la lumière change. Agamemnon pense, Klytaimnestra attend.“
Immer wieder schlägt vor allem der Chor alternative Handlungsmöglichkeiten vor, andere Gefühle, aber immer wieder zwingen sich die männlichen Akteure, auf dem vorgezeichnete Tragödienpfad fortzuschreiten. Bis Iphigenie diesmal nicht in den Vaterwillen einlenkt, sondern sich von der ganzen Griechengesellschaft lossagt und in der Einsamkeit des Sandsturms einfach verschwindet. Das ist ein Theater, das sich selbst widerstand leistet und jede Heroik aus der Tragödie vertreibt. Tiago Rodrigues bricht in ein Sprachheiligtum ein und legt dessen skandalösen und unerträglichen Kern frei.

So eine Sensibilisierung für die Katastrophe, die Literatur sein kann, tut einem Festival ganz gut, das unter Olivier Pys Leitung immer schon die Poeten als Menschheitsretter feiern will. Und sie schärft den Blick auf eine 13-stündige Feier von Poesie, Theater und märchenhafter Dramatik, die der junge Autor und Regisseur Simon Falguières in den letzten Jahren inszeniert und in Avignon vollendet hat. „Le Nid de Cendres“ heißt das und erzählt von einer doppelten Malaise: Von der Menschenwelt und von der Märchenwelt. Beide sind krank, vom Virus des Zerfalls befallen.
« Notre monde est peuplé de moitiés malades …
Eine Welterschaffungsszene am Anfang, dann ein völlig überlastetes Krankenhaus, eine hochschwangere Frau, eine chaotische Geburt, dann eine melodramatisches Eheszene. Die junge Mutter ist mit ihrem Leben unzufrieden. Ein Eindringling Namens Badile manipuliert das Paar mit maliziöser Impertinenz, um sich des Neugeborenen zu ermächtigen. Der Monsieur Badile, ist natürlich, anagrammatisch verkappt, niemand anderes als Monsieur Diable, der Teufel. Und er weiß um die künftige Bedeutung des Säuglings Gabriel als künftigem Weltenretter. Die Märchenwelt bietet ihrerseits Königstochter Anne auf, um ein neues Bündnis von Mensch und Märchen zu stiften. Von dem „Nichts“ ist die Rede, die Zeit tritt als allegorische Figur auf und auch manches andere erinnert von ferne an Michael Endes „Unendliche Geschichte“. In der Mitte steht als Bindeglied eine Landtheatertruppe, die Gabriel als Findelkind aufnimmt. Die Errichtung einer neuen Welt auf der Asche der Alten ist, symbolisch genug, das Werk einer Theatergruppe. Das riesige Fresco mit über 50 Figuren ist rührendes Volkstheater voller schöner Regieideen und herrlich altbackener und oft ostentativer Spielweisen auf der Basis eines wirklich gut geschriebenen Textes. Das Theaterkollektiv vom Land hat jetzt in der Normandie ein Bauernhaus gekauft; dies und auch manches andere erinnert an die 1970er Jahre und ein wenig auch an Ariane Mnouchkine und ihr utopisches Theater-Kollektiv Théâtre du Soleil.