Stück über die Pariser Anschläge von 2015
Polyphonie der Hölle
von Eberhard Spreng
Die verheerenden islamistischen Anschläge vom 13. November 2015 forderten in der französischen Metropole 130 Todesopfer und verletzten fast 700 Menschen. Nun hat Laurent Gaudé daraus eine vielstimmige Reflexion gememacht. Der Frankokanadier Denis Marleau inszeniert „Terrasses“ am Pariser Théâtre de la Colline.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.05.2024 → Beitrag hören
Eine junge Frau mitten auf einer leeren, spärlich beleuchteten Bühne. Sie erzählt vom Aufwachen am Morgen des 13. November 2015. Von ihrer Aufregung, weil sie am Abend ein Date hat ist und wie es scheint, frisch verliebt ist.
„Je me dis que cette journée est belle, puisque nous allons nous voir ce soir, dès le matin cette boule dans le ventre qui dis que je t’aime peut-être plus que je ne le pensais.“
Langsam schimmert auf der Riesenleinwand hinter der Spielfläche eine Stadtansicht auf: Fassaden hinter Bäumen, gefilmt in einer langen Kamerafahrt. Der frankokanadische Regisseur Denis Marleau lässt außer diesem ersten weitere, impressionistisch hingetupfte Schwarzweiß-Videos projizieren. Es sind fast abstrakte, leicht unscharfe und in Zeitlupe verlangsamte Stimmungsbilder: Zum Beispiel Großaufnahmen von den typischen Korbgeflechtstühlen auf den Pariser Café-Terrassen. Auf denen saßen am ungewöhnlich milden Abend des 13. November viele junge Menschen.
„Le temps est magnifique. C’est étrange en cette période de l’année. C’est pour cela qu’il y aura tant de monde aux terrasses des cafés ce soir. Parce-que les Parisiens sentent bien que c’est peut-être la dernière soirée douce avant l’hiver.“
Auf mehrere Akteurinnen verteilt die Regie hier den Text. Das stimmenreiche Ensemble sitzt einfach auf Bänken an den Seiten der Bühne. In die Mitte kommt, wer gerade das Wort hat. Laurent Gaudés Prosa lässt das große Kollektiv der Opfer zu Wort kommen. Es ist eine Wir-Erzählung, in die einzelne Schicksale eingebettet sind: Das der jungen Frau, die mit ihrer in Barcelona lebenden Zwillingsschwester den gemeinsamen Geburtstag feiern will. Und die sich bei der Frage, wo das geschehen soll, fatalerweise auf Paris einigen. So wird dieser 13. November 2015 auch ihr gemeinsamer Todestag.
Oder die Geschichte des jungen Mathieu. Vor dem Bataclan bittet ihn ein ob der Opferzahlen im Konzertsaal völlig überlasteter Sanitäter, sich um eine Schwerverletzte zu kümmern. Die ihm unbekannte Frau stirbt in seinen Armen.
„Personne ne m’a préparé à recueillir les derniers instants de la vie d’une jeune femme que je ne connaissais pas. Personne ne m’a dit que tu serais ma rencontre de vie qui renverserait tout en moi : Julie.“
Niemand, so sagt dieser Mathieu, habe ihn auf eine solch tragische Situation vorbereitet, die sich in seine Seele einschreiben wird als der wichtigste Moment seines Lebens. Autor Laurent Gaudé feiert das plötzlich im Chaos brutaler Attentate erwachende Heldentum. Krankenpflegerinnen, Feuerwehrmänner und Polizisten sind neben den Opfern die Protagonistinnen und Protagonisten einer Chronik, die den Täter bewusst keine Stimme gibt. „Terrasses“ erzählt vom Anschlag auf die Cafés und den Bataclan, wobei sich der Autor zwar auf die historischen Fakten stützt, die Situationen aber von Figuren schildern lässt, die hier schon wissen, was auf sie zukommt. So sprechen Opfer und Überlebende als großes „Wir“ in Angesicht der Katastrophe. Es ist also eine dokumentarische Fiktion, die der Regisseur Denis Marleau allerdings in einem durchgängig feierlichen Ton aufführt, als chorisches Requiem, als elegisches Oratorium. Das Ergebnis ist Ermüdung. Die wohl unerwünschteste Reaktion angesichts der dramatischen Thematik. Aber: Ist das Zeremonielle überhaupt die richtige Form für die verheerenden Anschläge von 2015? Mit ihrem hohen Ton und ästhetischer Formvollendung macht diese Aufführung das Unbegreifliche und nicht zu Bewältigende zu einem abgeschlossenen Thema der französischen Zeitgeschichte. Gewidmet hat der Autor den Text „Allen, die sich an diesem Abend als Pariserin oder Pariser fühlten“ und tatsächlich haben ja fast alle im Publikum ihre je eigenen Erinnerung an den 13. November und den Angriff auf die „Vie parisienne“, auf Freiheit und Lebensfreude. Aber das große pariserische Schicksalskollektiv will sich im Théâtre de la Colline nicht so recht zusammenfinden, vielleicht mag man einfach solcherlei Gottesdienste nicht.
Laurent Gaudés „Nous, l’Europe, Banquet des Peuples“ beim Festival in Avignon