Virtuelles Theater am BE
An der Hand des Todesengels
von Eberhard Spreng
Mit der dänischen Schauspielerin Ruth Berlau verband Bertolt Brecht eine intensive Arbeits- und Liebesbeziehung. Ihr wird nun am Berliner Ensemble die Installation „Berlau::Königreich der Geister“ gewidmet, die Theater mit Virtueller Realität zu einer eindrücklichen Erfahrung für je eine Zuschauerin oder einen Zuschauer verbindet.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 06.05.2022 → Beitrag hören
Ein Todesengel neben einer kleinen Pforte. In schwarzem Kleid mit gestutzten Flügeln erwartet er dich mit einem starren, undurchdringlichen Blick. Und diesen Blick, mal vorwurfsvoll, mal fragend, aber immer insistierend, den wirst du eine gute Stunde lang nicht mehr los. Du bist in eine Welt hineingeraten, in die du vielleicht gar nicht hineingehörst.
„Du geisterst hier herum, schneist herein, als würdest du in jedem Raum von jemandem erwartet. Glaubst du, dich kann jemand hier gebrauchen?“
Das Du an diesem kurzen Performanceabend, das ist die Zuschauerin oder der Zuschauer. Eine nach dem anderen absolvieren sie im Alleingang einen Parcours, der in einem leeren, mit Bauholzpaneelen gebauten Zimmerchen beginnt. Dann setzt der Todesengel diesem noch sehr unbestimmten Publikums-Ich eine VR – Brille auf und die verwandelt den kahlen Raum in ein Zimmer mit Waschbecken, Pritsche und Stuhl, wie man sie sich in der Psychiatrie vorstellen könnte, in der die an ihrer Liebe zu Bertolt Brecht immer wieder verzweifelnde Ruth Berlau einige Zeit verbrachte. Dann erlischt das dreidimensionale Bild in der VR-Brille und der Todesengel führt dich Blinden behutsam lenkend einige Meter weiter zu einem Sessel. Und damit ins nächste Bild: Der leere Zuschauerraum des Berliner Ensembles flammt auf, und ein Schauspieler mit Brechtjacke und ein kleiner Junge reden auf dich ein.
„Was machst du da? Es geht gleich los, die Leute warten draußen, es ist ausverkauft, und du sitzt da und denkst es muss sich jemand um dich kümmern. Du bist nicht ganz allein auf dieser Welt. Es geht gleich los, ich dachte schon du willst mich gar nicht sehen.“
Klar wird nun immer deutlicher, als wer du hier angesprochen bist: Du bist der Frauenausbeuter Bertolt Brecht. Du bist der, der mit Ruth Berlau den kleinen Sohn Michel hatte, der wenige Tage nach der Geburt starb.
Vor einem Jahr hatte das Kollektiv Raum + Zeit einen Stadtrundgang eingerichtet, der an Ruth Berlaus und Michels Grab im Dorotheenstädtischen Friedhof begann. Ein Stadtrundgang mit Kopfhörern, bei dem von Brechts Frauen die Rede war, seinen Liebschaften, künstlerischen Partnerschaften, von seiner Untreue, seinem Verrat. Schon damals war man als der Herr Brecht angesprochen worden, konnte aber dem schlechten Gewissen noch ziemlich gut entkommen. Jetzt ist die Ansprache ungleich eindringlicher. Denn der Todesengel nimmt dem Zuschauer seine VR- Brille ab und der sieht sich unversehens in einem engen Raum einer verzweifelten Ruth Berlau gegenüber, gespielt von Susanne Wolff. Gerade hat sie im amerikanischen Exil ihren kleinen Michel verloren und arbeitet dennoch weiter mit dem berühmten Dramatiker.
„Du denkst an die große Sache, na los! Reib dir deine Hände, krempel die Hose hoch, spuck in deine Hand, ein Riesen Haufen Arbeit wartet, in Berlin, auf dich… und mich! Ich komme mit!“
Ununterbrochen blickt die Schauspielerin auf dich Zuschauer und du kannst gar nicht anders als den Blick beharrlich zu erwidern. Du wirst selbst Akteur und bleibst doch zugleich nur Zuschauer. Aber auch bei so viel Nähe ist die Konvention Theater gewahrt: Die Szene ist ganz persönlich, aber überhaupt nicht privat. Zwei weitere Male begegnest du der Berlau in anderen Lebensabschnitten: Die junge verkörpert Amelie Willberg als kokett-provozierende, die ältere spielt enttäuscht-abgeklärt Esther Hausmann. Drei große Momente von Schauspielkunst inmitten einer virtuellen Performance, in der man lernt, dass es möglich ist, zugleich da und nicht da zu sein, gemeint und nicht gemeint zu sein.
Digital wird es dann noch einmal auf der Bühne des BE. Du bist inmitten eines Kreidekreises: Das Mutter-Kind-Motiv wird im makabren Gaukelspiel angedeutet; Figuren umkreisen dich in Ton und Bild, du drehst dich herum auf der Suche nach dem Sprechenden. Du wirst zum Spielball der Eindrücke und Assoziationen. Aber ganz zum Schluss setzt der Todesengel die Zuschauerin oder den Zuschauer ohne VR-Brille in die Installation. Alleingelassen kann man nun als Sehender seinen Blindenparcours von eben nachvollziehen, einem anderen Menschen bei seinen vom Todesengel begleiteten Irrweg folgen, wird so wieder distanziertes Publikum mit der Einsicht in die Funktionsweise der virtuellen Realität. Und nun ja, die Emanzipation von der Illusion hat immer etwas ernüchterndes. Raum + Zeit aber gelingt mit ihrer Installation „Berlau::Königreich der Geister“ eine ungemein intensive Erfahrung.