Kevin-Rittberger-Wir-sind-nach-dem-Sturm-uraufgefuert

Uraufführung in Hannover
Sturm im Zettelkasten
von Eberhard Spreng

Kevin Rittberger schreibt „Wir sind nach dem Sturm“ als Auftragsarbeit für das Staatsschauspiel Hannover. Marie Bues inszeniert dies am Ballhof im Horrorlook einer Zombie-Truppe, die sich an diversen Mainstream-Themen abarbeitet.

Foto: Katrin Ribbe

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 21.11.2022 → Beitrag hören

Was sind wir schon? Atome, Moleküle, denkendes Eiweiß. Unsere Bestandteile sind unsterblich und zeitlos. Die materielle Basis unserer Existenz ist also in Verbindung mit allem, was auf der Erde mal Substanz war, lebende und vor allem auch anorganische. Und so säuselt Alrun Hofert in einer Kuhle aus Gestein und Sediment von einer langen Vorgeschichte, als es so etwas wie Säugetiere noch nicht gab.

„Links von mir Sedimente, rechts Granit.
Für mich vergeht hier keine Zeit.“

Im Harz soll dieses Mineral gelegen haben, bevor die Evolution den Menschen hervorgebracht hat und seinen unendlichen Drang, sich Mutter Erde zueigen zu machen, Maschinen in Anschlag zu bringen, Stollen in den Berg zu treiben und sich Rohstoffe unter den Nagel zu reißen. In Kevin Rittbergers neuem Stück ist aber dann auch von dem Ende des Patriarchats die Rede, von Protesten gegen ein die Kolonialzeit verherrlichendes Denkmal, von der Erfindung des den Bergbau rasant modernisierenden Stahlseiles, von Vergewaltigung und einer missglückten Verliebtheit. All das ist eine ziemlich wilde Kollage; sie versucht, Sittenbild einer Zivilisation zu sein, in der der Mensch sich selbst zwischen Machtgelüsten, Umweltkatastrophen und spirituellen Hoffnungen völlig verloren hat.

„Der Raubbau ging weiter. Das Patriarchat musste weg. Und wenn in deinem Körper Hunderte, ach was, Tausende von Jahren Gewalterfahrung begraben liegen, in den Zellen gespeichert sind, in der DNA, wenn dein Schmerzgedächtnis alarmiert wird gleich nach der Geburt natürlich auf diesen Algorithmus reagiert, dann ist ja klar…“

Erste Sitzung bei einer Nachwuchstherapeutin. Konfusion der Kategorien zwischen individueller Schmerzerfahrung und existentieller Verlorenheit. Der Patient möge doch bitte von sich selbst sprechen, fordert die Therapeutin – ein Motiv, das auch in anderen Szenen immer wieder anklingt. Rittbergers Menschen schaffen es nicht, „Ich“ zu sagen, kohärente Wesen zu werden. Nur dem eingangs eingeführten Atom traut der Autor das Potential zu, zur Ich-Figur zu werden. Der Mensch ist nicht Subjekt der Geschichte, die Materie schon. Ok! Eine Schneise im Gedankenchaos des Stückes. Eine zweite ist die Verortung: Vom Hannovernahen Harz ist immer wieder die Rede. Weil da Bergbau stattfand und dort das Stahlseil erfunden wurde. Oder weil da Bad Lauterberg liegt und eine den Kolonialismus verherrlichende Statue.

„Dieses Denkmal ist einzementiertes Unrecht und muss weg. Du siehst, dass die Unterdrückung von Andersaussehenden, die Unterdrückung von Frauen und die Unterdrückung der Arbeiterklasse ein gemeinsamer Kampf ist. Du warst und bist bereit, dafür auch etwas einzustecken.“

Lukas Holzhausen spielt einen alten Aktivisten, der die Formeln alter Kämpfe zu dem postmodernen Mix aus Konflikten, Aufruhr und Turbulenzen beisteuert. Der Gegenstand des Protestes ist die Statue des einstigen Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Hermann von Wissmann. Ein schlimmer Protagonist von Ausbeutung und Kolonialismus, ein schlimmes Beispiel für die Kategorie „Mannmensch“, die es im Dienste des Matriarchats zu überwinden gelte. Aber Kevin Rittbergers Zettelkasten hält noch vieles andere bereit: Marie Bues’ Regie darf man zugute halten, dass sie das alles irgendwie in eine groteske Optik einbindet.

Zombies wie in Jim Jarmuschs Horrorkomödie

Über den mineralischen Untergrund laufen drei Akteurinnen und zwei Akteure mit von unverheilten Wunden grässlich entstellten Körpern: Untote, Zombies, als wären sie gerade Jim Jarmuschs Horrorkomödie „The Dead don’t die“ entsprungen. Außerdem wird das, was gerade hoch emotional ausagiert wurde, dann in einer Art Supervision auf der Meta-Ebene noch einmal diskutiert. „Du warst besser als ich. Ich meine: Vielschichtiger!“ hört man dann zum Beispiel. Vor allem aber färbt auch der Livemusiker Johannes Frick das düstere Geschehen mit Soundscapes und metaphysischem Heilsversprechen ein:

“Nam myoho renge kyo”

Die im japanischen Buddhismus beim „Chanten“, dem Rezitieren vor dem Gohonzon–Gebetsschrein übliche Formel erklingt. Hier tönt sie aus einer anderen Kultur in ein Desaster, das Auswege aus dem Krisen- und Konfliktgemisch nicht findet. Um all dem Chaos ein Ende zu machen, verspricht ein Akteur abschließend mit dem festen Blick ins Publikum, den Raubbau des Menschen zu beenden. Er will hinfort lauschen auf die gottgegebene Mutter Erde und erwartet von ihr Zeichen für künftige Orientierungen. Diese letztlich ins Religiöse zielende Auflösung ist dann doch etwas zu billig für eine so weit ausgreifende Frage nach dem Stoff, aus dem die Menschen sind.