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Uraufführung an der Schaubühne
Verschollen in rosa Schnee
von Eberhard Spreng

Katie Mitchell unplugged: Mit einfachster Öko-Technik urinszeniert die britische Regisseurin das neue Stück der Nachwuchsdramatikerin Chris Bush. „Kein Weltuntergang“. Der Strom für die Aufführung kommt aus zwei Fahrradgeneratoren.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 05.09.2021 → Beitrag hören

Foto: Gianmarco Bresadola

Drei Türen, drei Frauen, viele Zeitebenen. Immer wieder nehmen zwei der Frauen auf Stühlen Platz. Sie spielen Varianten eines Bewerbungsgesprächs, das aus den verschiedensten Gründen schief läuft.

„Ach Doktor Vogel, leider hat sich hier alles verzögert, also ich kann sie heute nicht mehr unterbringen, sprechen sie doch mit Marianne, bevor sie gehen und vereinbaren sie einen neuen Termin.“

Es sieht so aus, als würde da in der Lebensgeschichte der Postdoktorandin Anna und der Professorin Uta wild hin- und hergespult, oder so als würde man zwischen Paralleluniversen hin- und her switchen, in denen verschiedene Varianten ein- und derselben Situation verhandelt werden. Aber: wie auch immer der Anfang dieses Bewerbungsgesprächs bei der einflussreichen Klimaforscherin verläuft, immer missglückt er: Mal passt der von Jule Böwe, blasiert, zynisch und genervt-gelangweilt angelegten Klimaforscherin das Verkehrsmittel nicht, mit dem die Bewerberin gekommen ist. Mal ist ihr der Ton zu jovial, mal ist sie unter Zeitdruck. Aus der mittleren Tür kommt derweil immer wieder eine völlig andere Handlungs- und Zeitebene auf die kleine Bühne im Globe genannten, kleinsten Saal der Schaubühne. Eine schwarz gekleidete Veronika Bachfischer tritt immer wieder mit einer Urne herein, später mit Blumen, schließlich mit Topfpflanzen. Ganz allmählich drapiert sie so im Verlauf der Aufführung einen Traueraltar. Sehr kunstvoll setzt die Schauspielerin die Choreographie der Vorwärts und- und Rückwärtsbewegung um, die ihr das Vor- und Zurückspulen auf der Zeitachse in diesem Stücktext vorgibt. Und sie bringt in die auf Dauer doch sehr repetitive Rahmenhandlung des Bewerbungsgesprächs quasi den diskursiven Part ein, klärt in kurzen Monologen über Rätsel des Klimawandels auf und erzählt eine emblematische Geschichte.

Willkommen im Multiversum

Da zögert eine Bildhauerin im Angesicht ihres Marmorblockes aufgrund der Endgültigkeit dieser Tat vor ihrem nächsten Hieb. Eine Quantenphysikerin kommt des Weges und erläutert das Konzept des Multiversums.

„Ich hoffe ich störe nicht, aber dürfte ich Ihnen etwas über das Multiversum erzählen. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit. Wir sind eine von unendlichen vielen alternativen Realitäten. Jedes Mal, wenn du eine Kerbe im Marmor hinterlässt, erschaffst du ein brandneues Universum.“

Die Geschichte von der Bildhauerin und der Quantenphysikerin dient als Schlüsselmetapher für einen Abend, dessen dramaturgischer Grundgedanke die Handlungsunschärfe und die Ereignisvielfalt sind. Was genau Anna Vogel bei dem Bewerbungsgespräch zustößt und warum sie dann später bei einer Expedition in der Arktis ums Leben kommt, bleibt im Unklaren. Das Theater, das doch traditionell immer gerne die Logik von Ursache und Wirkung erzählt, zersprengt hier Biographie und Ereignis in Partikel von Möglichkeiten und Optionen. Vor allem aber erzählt das Stück mit dem ambivalenten Titel von allerlei Bekanntem und Unbekanntem zum Klimawandel, vom rosa Schnee, der durch Algenwachstum entsteht, von Grizzlybären, die sich neuerdings mit Eisbären paaren, wobei eine neue Spezies entsteht, von positiven Feedbackschleifen, zu denen zum Beispiel Waldbrände gehören, vom eklatanten Unterschied zwischen 1,5 und 2 Grad Erwärmung. Wer wollte da nicht sofort aktiv werden?

Das Dekor, eine Bretterwand mit drei unterschiedlichen Türen und vielen chaotisch verlegten Kabeln sei, wie das Programmheft beteuert, aus Recyclingmaterial, die Kostüme aus dem Fundus. Den Strom für Licht und Ton liefern zwei wackere Radlerinnen auf zu Generatoren umgebauten Fahrrädern links und rechts der Bühne. 120 Watt liefert jede, es reicht, LED Technik macht das möglich. Das ist Katie Mitchells Beitrag zur Zukunft eines Theaters der Nachhaltigkeit. Tja, und der Rezensent ist zu diesem Abend tatsächlich auch mit dem Fahrrad zur Schaubühne gefahren und schreibt diese Zeilen auf seinem Computer mit angeblich klimaneutraler Greenpeace-Energy. Aber: Auch wenn wir jetzt alle unsere kleinen Co2-Spar-Aktiönchen zusammenwerfen, kommt dabei immer noch keine Lösung der Klimakrise heraus. Das weiß natürlich auch Katie Mitchell, die nicht nur zur Klimaschonung aus der Ferne per Zoom-Konferenz inszenierte, sondern weil sie an Corona erkrankt ist. Ein merkwürdiger Hauch von Ironie liegt über dem etwas langweiligen Nachhaltigkeitsexperiment, aber auch ein melancholisches Gefühl der Vergeblichkeit aller individuellen Lösungsversuche.