Printemps des Comediens
Black Box und White Cube
von Eberhard Spreng
Julien Gosselin und Julie Deliquet zeigen neue Arbeiten beim Printemps des Comediens in Montpellier.
Theater der Zeit, 17.06.2025 – Auf TdZ lesen

Als ein großes Forum für die Begegnung von Theater und Performance kann man das Programm verstehen, das der neue Direktor des Odéon – Théâtre de l’Europe für die kommende, erste Spielzeit ankündigt. Julien Gosselin, der das wichtigste französische Nationaltheater nun leitet, bietet damit an prominenter Stelle all jenen ästhetischen Tendenzen ein Forum, die der europäischen Bühnenkunst aus dem Bereich der zeitgenössischen Kunst seit Jahren zufließen. Für das allgemein theatral etwas konservativere Frankreich hat das Bedeutung. Mit dieser programmatischen Setzung begegnen sich allerdings auch: Die „Black Box“, die letztlich jeder traditionelle Bühnenraum aus beleuchtungstechnischen Gründen darstellt und der „White Cube“, in dem die zeitgenössische Kunst stattfindet, oft inklusive ihrer Performances.
Das schwarz-weiße Setting, in dem Julien Gosselin seine neue Arbeit „Musée Duras“ eingerichtet hat, kann als Metapher für diese paradigmatische Begegnung der Genres gesehen werden: Die Publikumsränge an Vorder- und Hinterseite des breiten Spielraums sind schwarz eingefasst; die Spielfläche selbst und ihre Seitenwände sind weiß gestrichen, das eine ist noch Theater, das andere schon Kunstraum.

Beim Eintreten in den Saal wird das Publikum eingeladen, sich für den ersten Teil ruhig auch auf der Spielfläche niederzulegen und die Augen zu schließen. Dann versinkt der Raum in Dunkelheit, eine Frauenstimme ertönt zu schwebenden Soundscapes aus den Lautsprechern und erst nach zwanzig Minuten erkennt man im nervös flackernden, fahlen Licht die Umrisse einer Schauspielerin in weißem Kostüm inmitten der liegenden Zuschauerinnen und Zuschauer. Dann sind wir längst schon eingegrooved in der Literatur der Marguerite Duras, die das Publikum zehn reiche Theaterstunden in verschiedenen ihrer vielfältigen literarischen Facetten begleitet. Es spielt und performt die Abschlussklasse des Pariser Conservatoire d’Art Dramatique; an performative Formate erinnern einige Soli, wie in „La Douleur“, dem Text vom 1985 über die Rückkehr des Ehemannes der Autorin aus einem Konzentrationslager für politische Gefangene. An das Theater erinnern einige Gruppenszenen wie aus „Savannah Bay“ oder „L’Amante anglaise“ von 1967 nach einer spektakulären Mordtat. Marguerite Duras hatte ihren Roman selbst für das Theater adaptiert; die Grenzgänge der Schriftstellerin zwischen literarischer, cineastischer und dramatischer Narration bieten einem Regisseur wie Julien Gosselin reichhaltige Assoziationsräume. Das emblematische „Hiroshima mon amour“ von 1959 darf da natürlich nicht fehlen. Es gehört zu den dialogischen Herzstücken der Aufführungsreihe, deren einzelne Elemente durch kurze zehnminütige Pausen getrennt sind. Es sind heftig ausgetragene Dialoge, für die komplexen Liebesgeschichten und Beziehungskriege wie im Theaterstück „Suzanna Andler“ von 1968. Wie immer begleiten Kameras dieses Schauspieltheater; ihre Bilder werden auf im Raum verteilte Leinwänden geworfen und verblüffen durch cineastische Qualitäten. Abgelöst werden sie immer wieder auch von Passagen, in denn nur dunkle Schemen zu sehen sind, die die Imagination des Publikums befeuern sollen. Gosselin lässt seiner Figuren zu suggestiven Sounds unentwegt im Licht entstehen und im Dunkel wieder untergehen. Er ist vor allem ein Bilderregisseur, und Spieler des Lichts.

„Musée Duras“ nennt der Regisseur die Arbeit mit dem Pariser Theaternachwuchs. Dieser Titel birgt einen Gedanken, der Julien Gosselins ästhetische und dramaturgische Neuerfindung des Theaters begründet. „Das Theater ist tot“, sagt er im Gespräch, und eigentlich bevölkern für ihn nur noch Phantome den Raum, wenn Autor:innen der Vergangenheit gespielt werden. Deren „Aktualität“ entspring also einer Form der Autosuggestion. Hier sei Ehrlichkeit gefragt und Julien Gosselin löst es auch in Bezug auf die „Aktualität“ der Margerite Duras durch eine mutwillig sprunghafte, ins Fragmentarische zerfallene Szenensammlung ein. Wir wandern durchs Musée Duras und entdecken voneinander unabhängige Artefakte, ein Theater der Fundstücke und ästhetischen Zitate: An den 2013 verstorbenen Meisterregisseur Patrice Chéreau wird erinnert und an die Kunstikone Joseph Beuys und seine Performance „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ von 1965: eine Zeitmarke in der Lebenszeit von Marguerite Duras und ein Meilenstein in der performativen Kunst. Am Ende wird wieder das Publikum auf der Bühne versammelt. In einer furiosen Performance appelliert die vom Vocoder verfremdete Stimme einer Actrice in einem eindringlichen Liebesklagegesang „Écrivez!“ („Schreiben Sie!“) als letzter Rettung in einem in und an der Liebe scheiternden Leben. Gosselin ist wieder beim Ausgangpunkt aller seiner Theaterarbeiten angekommen: dem Leitmedium Literatur.

Diese ist auch Grundlage für eine dokumentarische Arbeit der Regisseurin Julie Deliquet: Sie hat die ursprünglich 1985 in Minsk erschienene Studie „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ der belarussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch inszeniert, die 2015 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde : Die Autorin hatte in einer jahrelangen Interviewrecherche mit Frauen gesprochen, die als freiwillige Soldatinnen der roten Armee und als Partisaninnen gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatten, als Scharfschützinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern, als Fliegerinnen und Panzersoldatinnen.
Ein hyperrealistisches Dekor füllt die Bühne: Ein überbordendes Gerümpel mit ärmlichen Haushaltsgerätschaften aus Plastik, eine Stellwand mit abgeschabtem Anstrich, in schmutzigem Waschbecken aufgetürmten Geschirr. Ein erbarmungsloses Licht fällt auf eine Welt, die diese Frauen am Rand der russischen Gesellschaft verortet. Neun von ihnen stehen Seite an Seite vor diesem Dekor, eine zehnte verkörpert die Schriftstellerin mit ihren Fragen. Erst behutsam beginnt eine zu erzählen, eine weitere ergänzt, eine dritte widerspricht. In dieser chorischen Erzählung entsteht eine allmählich kaskadierende Katastrophenerzählung voller ergreifender und schwer zu ertragender Details. Ganz ohne Video und andere fremde Bildgeber entsteht aus der Collage der Erfahrungen ein vielstimmiges Schreckensgemälde. Was engagiert beginnt, sich dann vital steigert, ist nach zweieinhalb Stunden für die weibliche Leidensgemeinschaft eine übermäßige Erinnerungslast geworden, die im Verstummen enden muss. Wie Julie Deliquet, die Direktorin des Théâtre Gerard Philippe im parisnahen Saint-Denis, diesen energetischen Bogen inszeniert, ist beindruckend. Das Publikum lernt: Nichts, was diese Frauen im Krieg erlebten, lässt sich mit den Erzählungen der Männer vergleichen. Und vor allem: Statt als Heldinnen in die Heimat zurückzukehren, schlägt ihnen dort, auch von weiblichen Familienangehörigen, nur Ablehnung entgegen. Die siegreiche Rote Armee hatte in ihren Reihen Frauen, die ihren Krieg verloren.
Mit dieser Arbeit hat Julie Deliquet ihren dokumentartheatralen Ansatz weiterentwickelt, mit dem sie bereits vor zwei Jahren zum Start des Festivals in Avignon 2023 auf der gewaltigen Papstpalastbühne auffiel. Ihr „Welfare“ war das Theater-Re-Enactment eines Films der US-amerikanischen Dokumentarfilmlegende Frederick Wiseman von 1975: Ein Tag in einer amerikanischen Sozialhilfebehörde, in der Obdachlose und Sozialhilfeempfänger vorsprechen. Zuvor bereits hatte sie schon Filmwerke für die Bühne adaptiert: Ingmar Bergmans „Fanny und Alexander“, Arnaud Desplechins „Ein Weihnachtsmärchen“ sowie Rainer-Werner Fassbinders Fernsehserie „Acht Stunden sind kein Tag“.
Die Dokumentarfilmadaption „Welfare“ litt auf der weiten Spielfläche im riesigen Papstpalst an einer Zerdehnung der Figurenbeziehungen und konnte sich schwer gegen Wisemans nahen Blick auf die authentischen Bilder des Überlebenskampfes behaupten. Das wurde besser in den kompakten Formaten der festen Schauspielhäuser. In einem solchen Format überzeugt nun „La guerre n’a pas un visage de femme“, ein überzeugendes Beispiel für puristischen Realismus.