Julien-Gosselin-inszeniert-Sturm-und-Drang-an-der-Volksbuehne

Sturm und Drang an der Berliner Volksbühne
Narzisstische Spiegelungen
von Eberhard Spreng

Thomas Manns „Lotte in Weimar“ verbindet der Franzose Julien Gosselin mit Goethes „Werther“ zu einer Literaturkollage mit dem Titel „Sturm und Drang – Geschichte der deutschen Literatur“. Sie soll in den kommenden Spielzeiten fortgesetzt werden.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 04.06.2022 → Beitrag hören

Foto: Thomas Aurin

Eine Dame steigt im Weimarer Hotel Elephant ab und erhofft sich interessante Treffen mit den Menschen aus dem Zentrum der deutschen Klassik und Aufklärung. Aber die erste Begegnung mit einem merkwürdigen Herren an der Rezeption deutet darauf hin, dass sie in einer abgelegenen, unheimlichen Provinz gelandet ist. Volksbühnenurgestein Hendrik Arnst spielt den impertinenten Rezeptionisten, der heimischen Gepflogenheiten unverhohlen Nachdruck verleiht.

– „Es erben sich, möchte man sagen, Gesetze und Rechte wie eine ewige Krankheit fort. Dürfte ich wohl um die Güte und Gefälligkeit bitten …
– Aber ja, ich vergaß, wahren wir die Form.“

Die junge französische Schauspielerin Victoria Quesnel spielt die „Lotte in Weimar“ nach Thomas Mann. Diesen Roman hat Julien Gosselin mit Goethes Sturm und Drang- Klassiker „Die Leiden des jungen Werther“ verschränkt. Das Dekor wechselt also immer wieder vom detailreich antikisierenden Hotelinterieur zur einfachen Wetzlarer Häuserfront des Werther. Und wie schon in seinen vorangegangenen Literaturadaptionen entfaltet der Regisseur zwischen Videobildern auf drei Leinwänden, seinem psychologischen Realismus im Spiel, den üppigen Kostümen und opulenten Soundkulissen ein filmtheatrales Gesamtkunstwerk. Ästhetische Anleihen holte sich Julien Gosselin dabei auch beim Defa-Film „Lotte in Weimar“ von 1975, taucht aber die Weimarer Klassik in eine zugleich unheimliche und komische Mystery-Atmosphäre: Lottes Hotelzimmer im Hotel Elephant, in das verschiedene Weimarer Persönlichkeiten mit höchst unhöflicher Aufdringlichkeit Einlass begehren, könnte jederzeit zum Schauplatz für Szenen aus dem Horror-Genre werden. Einen dieser Verrückten aus der Weimarer Goethe-Fangemeinde spielt der wunderbar ausgeflippte Benny Claessens. Die quadrierte Dunkelmalerei in den Videobildern fängt die seelischen Verkrümmungen von Menschen ein, deren unerfüllte Liebessehnsucht in einen Hang zu fataler Genialität umschlägt.

„Es ist nicht Angst, nicht Begier – es ist eine inneres, unbekannten Toben, das mir die Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst! Dass also ich die Quelle allen Elends bin, wie ehemals die Quelle aller Seligkeiten. Der Schauplatz des unendlichen Lebens, er verwandelt sich in en Abgrund des ewig offenen Grabes.“

Maire Rosa Tietjen spielt, crossgender besetzt, den jungen Werther. An der Seite ihrer französischen Kollegin, wird aus der unerfüllten Liebe in Goethes Frühwerk eine narzisstische Spiegelung.

Foto: Thomas Aurin

Werther und Lotte sind ein deutsch-französisches Double, eingefangen immer wieder in Bildern, die vor allem ihre Ähnlichkeit betonen. Vom großen Genie ist zwei Stunden lang nur die Rede, dann taucht es auf, verkörpert von Martin Wuttke.

„Ich bin Schoß und Samen, die androgyne Kunst, geprägt durch mich, empfängt so die Welt alles von mir. So sollten es die Deutschen halten, denn darin bin ich ihr Bild und Vorbild: Weltempfangend und Weltbeschenkend.“

Das deutsche Drama: Ein Gefühl das Gedanke wird

Mit diesem Zitat aus Thomas Manns „Lotte in Weimar“, das explizit Goethes Ideal einer androgynen Künstlerschaft aufgreift, ist der zweite, vollends mythenberauschte Teil des Abends eingeläutet. Das realistische Dekor verschwindet; eine Pappmachélandschaft glüht unheilvoll wie die deutsche Gattungshöhle, aus der alles möglich hervorkommen kann: Die Nibelungen, Walhall, Faschismus. Weimar, so sieht es der Regisseur, ist nicht nur die Heimat der deutsche Klassik, es war auch, 1919, Geburtsort einer problematischen Republik; sein Hotel Elephant war Station auf den Reisen Adolf Hitlers. Es geht um Nationalpathologie; aus der Erzählung wird nun szenisch wenig beglaubigtes Diskurstheater mit diffuser Wirklogik: Ist das Fatale in der deutschen Kultur ein Kind unerfüllten und erfüllbaren Liebesverlangens, eine Folge narzisstischer Selbstbezogenheit wie bei Werther? Führt der Weg vom Sturm und Drang direkt bis zu Hitlers Nationalsozialismus? Das bleibt eine Behauptung, der man in den nächsten Spielzeiten noch nachgehen könnte. Dennoch: Eine solch groß angelegte und in Teilen rauschhaft bildgewaltige Theaterarbeit kannte die Volksbühne nach Castorfs Abschied nicht mehr. Nach dem Kleinklein des missglückten Neustarts unter der Leitung von René Pollesch wummert dieses Theater wieder und stemmt sich erfolgreich gegen das Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit.