Julien-Gosselin-inszeniert-seine-Literaturkollage-Extinction-in-Co-Produktion-mit-der-Volksbuehne

Uraufführung in Montpellier
„Auslöschung“ als Triptychon
von Eberhard Spreng

Von Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“ bezieht die Arbeit des Franzosen Julien Gosselin den Titel „Extinction“. Er montiert zusätzlich Texte von Arthur Schnitzler und Hugo von Hoffmannsthal u.a.. Das Ergebnis ist ein gut 5-stündiges Mammutwerk über Schlüsselmomente der österreichischen Geistesgeschichte. Vier Schauspielerinnen der Volkbühne spielen Seite an Seite mit Gosselins Truppe in dieser deutsch-französischen Co-Produktion.

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Podeste mit vielerlei Apparaten für elektronische Musik sind auf der Vorderbühne postiert, an der Seite steht eine Bar, an der man sich ein Getränk holen kann. Wer will, kann zu Technomusik auf der Bühne tanzen.

Abgefahren: Das Stück will nicht anfangen, statt dessen Party: Ein Teil des Publikums tanzt, eine anderer schaut zu. Der gut fünfstündige Abend über die Vernichtung der Wiener Bohème beginnt mit Clubatmosphäre in Bühnennebel, dann löst sich eine Protagonistin aus dem Wimmelbild. Zwei Kameramenschen fangen sie für die große Videoleinwand ein. Dann, plötzlich und unvermittelt: die erste Pause für den Bühnenaufbau: Der offenbart im zentralen zweiten Teil eine Jugendstilglasfront vor hübschem Salon, durch den die Kameras mit bildstarken Schwarzweißaufnahmen das deutsch-französische Ensemble begleiten. Debatten über Kunst und Kultur, amouröse Verwicklungen, dramatische Krisen. Gosselin hat Arthur Schnitzlers „Komödie der Verführung“ mit Motiven aus dessen „Traumnovelle“ und der „Fräulein Else“ zu einem bedrückenden Sittenbild montiert. Eine Gesellschaft im Aufruhr zumal weiblichen Begehrens, das sich in Moral und Ethik der traditionellen Kultur nicht mehr einfügen lässt. Eine Stichwortgeberin für weibliche Destruktion ist dabei ein Gedicht der Schriftstellerin Marlen Haushofer.

„Ich weiß nicht, was ich mit den Dingen, die ich gernhabe, tun soll. Ein wilder Drang befiehlt mir, sie zu zerbeißen und zu verschlucken, aber ich weiß, nachher werde ich traurig sein darüber. Es sind die Dinge, die Dinge, die Dinge …können nicht viel Liebe aushalten.“

Destruktion und Eros. Allzu bereitwillig folgt Gosselin dem von Sigmund Freud beeinflussten Dramatiker der Wiener Moderne, Arthur Schnitzler. Da ist Albertine und ihr Mann Fridolin, die in einer maskierten Abendgesellschaft die unbefriedigten Aspekte ihrer Erotik entdecken. In einer traumhaft inszenierten Episode erlebt das Publikum die unergründliche Melancholie der Carine Goron in der Rolle der Albertine.

„S’il m’avait appelé je n’aurais pas pu résister. J’avais le sentiment que j’étais prête à tout.“

Schnitzlers Traumnovelle, zauberhaft verfilmt in Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“, erzählt auch hier bildmächtig von der nur tiefenpsychologisch zu erklärenden Bereitschaft, ein ganzes Leben mit seinem Luxus und seinen Gewissheiten für ein Liebesabenteuer hinzugeben. Während die Männer über Schönberg, Mahler und Mondrian schwadronieren, zeigt das Gefühlsleben der Frauen schon den kommenden Untergang an. Für Gosselin ist Albertines emblematischer Alpdruck aus der Traumnovelle Auslöser für eine universelle Apokalypse: Vögelkreischen wie in Hitchcocks berühmtem Film, Zittern der Bilder wie bei einem Erdbeben. Plötzlich Farbe: Die Salongesellschaft von eben, nun in Dirndln und Lederhosen, ein Beil geht um, Mord wird zum Gesellschaftsspiel. Ist das der Faschismus, von dem Thomas Bernhard in seinem Roman „Auslöschung“ spricht, und dessen kulturelle Vorläufer Gosselin in Berlin mit seinen „Sturm und Drang“ schon nachspürte? Damals für Deutschland, nun für Österreich? Der Regisseur wird nie explizit, bleibt in symbolischer Andeutung. Eine Welt im Untergang, überwältigend in Bild und Ton, das Publikum ist konsterniert. Etwas sprunghaft bleibt seine dramaturgische Herleitung.

Dann wieder Pause und ein weiterer, ästhetisch wiederum völlig anderer Ansatz zum Verstehen dessen, was Auslöschung meint: Ein rein sprachliches Projekt: Der Ich-Erzähler aus Bernhards Roman „Auslöschung“ rechnet mit der familiären Vorgeschichte ab. Hier spielt Volksbühnen-Aktrice Rosa Lembeck den Franz-Joseph Murnau und versucht die Tilgung der verdrängten Erinnerung, indem sie sie in Sprache verwandelt.

„Meine Familie wird in diesem Bericht ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht Wolfsegg wird in meinem Bericht ausgelöscht, auf meine Weise“

Auf frei geräumter Bühne steht ein einsames Podest, ein Uni-Vortrag ist der Rahmen für einen langen Monolog. Die französische Übersetzung legt sich in der Mitte der Leinwand quer über Rosa Lembecks in Trauer aufgelöstes Gesicht. Julien Gosselin will jetzt in seinem Theater den Menschen hinter die Sprache stellen und die eben noch in opulenten Bildern präsentierte Welt in der Sprache verschwinden lassen. In einem Interview sagte er einmal, er würde Zuschauerinnen und Zuschauer am liebsten in seinem Kopf versammeln, wenn er Literatur liest und dabei Musik hört. Theater als synästhetischer Assoziationsraum, der ganze Epochen fassen will. Hier endet er in radikaler Reduktion. Seine „Extinction“ sind drei völlig unterschiedliche Skizzen für diesen gesamtkunstwerklichen Ansatz. Ein Abend voller Material, mal grandiose Momente von Theater, mal unvollendeter Torso.