Jette Steckel – 10 Gebote

„Zehn Gebote“ am Deutschen Theater
Dramatikerschaulaufen in Glaubensdingen
Was die 10 Gebote heute bedeuten, sollten fünfzehn Autoren in einer Sammlung von kleinen Stücken erkunden. Regisseurin Jette Steckel hat ihr liebe Not damit, dies in eine geschlossene szenische Form zu bringen.

Von Eberhard Spreng

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.01.2017 → Beitrag hören

Das Deutsche Theater mit seinem Spielzeitmotto „Keine Angst vor niemand“ (Foto: Eberhard Spreng)

Es wird eifrig gekritzelt im Eingangsbild zu einem langen Theaterabend. Auf die Drehbühne hat man einen großen, dunkelgrauen Zylinder gebaut, mehrfach durchbrochen und mit Zwischenwänden versehen. Und auf dessen Stirnseiten und Zwischenwänden werden Gebote geschrieben, hastig, manche in Blockbuchstaben und alle fangen an mit „Du sollst“. Aber wie lebt sich’s so in einem Schiefertafellabyrinth, in dem der Blick der Akteure zwangsläufig auf irgendeinen Schriftzug fällt. „Immer muss ich alles sollen, jetzt lasst mich doch auch endlich mal etwas wollen“ rockt trotzig das Ensemble, bevor es in einem Monolog des Clemens Meyer, einem von über zehn Autoren, die hier für das formsprengende Menschheitsthema Texte, Szenen, Dramolette, Sketsche beigesteuert haben, in die Auseinandersetzung mit den Geboten geht.

„Und Gott sprach: bgrdlg grdbldegeble …“

In Clemens Meyers Kosmogenese aus biblischen Motiven und Ikonen der Pop-Industrie hat Benjamin Lilie von Gottes Worten nur Brabbellaute übrig gelassen.

Und Gott sprach: Sorry

Ganz am Ende der Aufführung und vier Stunden später, wird Gott dann leibhaftig auftreten als ein Plüschmonster in hellem Kuschelkostüm, ein Schaf an der Leine und einem großen Entschuldigungsmonolog auf den Lippen. „Sorry, liebe Menschheit, ich war noch nicht soweit“ lautet die Botschaft in einem erfundenen elften Gebot des Rocko Schamoni. Gott, der Schöpfer, hat den elenden Menschen nicht so richtig hingekriegt. Klar also, dass es in dem von Jette Steckel arrangierten Abend nicht darum geht, das Theater an einer starren Gebotsordnung zu ertüchtigen, sondern die Religion und ihr Regelwerk am Gegenwartsmenschen und der Gegenwartgesellschaft zerschellen zu lassen. In 2ten Gebot des Deutsch-Irakers Sherko Fatahs erfährt ein Ermittler von den Hintergründen, die zu einem Ehrenmord an einer jungen Frau geführt haben. Das ist übrigens das einzige Stücklein, das in einem islamisch geprägten Umfeld angesiedelt ist. Zu Ehren von Vater und Mutter, will sagen fürs 4. Gebot, versammelt sich das neun-köpfige Ensemble um eine geheimnisvoll beleuchtete Tafel, erzählt aus der Geschichte der jeweiligen Eltern und zitiert deren Denksprüche, und weil diese teilweise in der Nazi-Zeit entstanden, sind die verbreiteten Weisheiten heute nicht unbedingt mehr ehren- oder liebenswert.

Kannibalen und der Wunsch nach straffreiem Töten

Dann aber knallt in die netten Theatersituatiönchen eine Videoarbeit von Jan Soldat, in der drei Kannibalismus-Anhänger von ihrer Phantasie erzählen, geschlachtet und verzehrt zu werden.

„Dann erinnere ich mich noch als ich acht war, das war ich beim Metzger und da sah ich ein Stück Schwein auf einem Teller liegen und dann habe ich mich immer gefragt, warum kann ich nicht dieses Schwein sein. Vielleicht möchte ja jemand wissen, wie ich schmecke. Wie jedes Körperteil von mir schmeckt, diese Erfahrung möchte ich gerne mit jemandem haben.“

Wie ist das 5. Gebot, „Du sollst nicht töten“ zu interpretieren, wenn das Opfer seinen Tod als die Erfüllung seines Lebenstraums mit seinem Mörder teilen will? Von dem Einschlag dieses auf Interviews beruhenden Bruchstücks aus der Wirklichkeit erholt sich das Theater nur langsam. Das heißt in Dea Lohers Parabel von einer Liebesgeschichte, über die sich die Fronten eines Bürgerkrieges legen. Ihr „Weine nicht, singe“ ist das Libretto zu einer 2015 uraufgeführten Oper, das hier dem 10ten Gebot zugeordnet wurde. So ganz ohne Musik wirkt Lohers Text voller kapriziöser Wiederholungen von Worten und Sentenzen äußerst manieristisch. Das hoch hinaus wollenden Sprachkunstwerk endet mit einem hilflosen schwadronierenden Lamento über das Elend des Krieges.

Die Mühen der Regie

Jette Steckel zieht einige regieliche Register, um dem ästhetisch in alle Richtungen ausbüchsenden Schaulaufen deutscher Gegenwartsdramatik-und Essays einen Rahmen zu geben. Mal kreist die Diskokugel, mal hämmert das Ensemble zum Wechsel von Chor und Einzelstimme auf Schiefertäfelchen herum, mal räkeln sich zwei Hipster in schicken Sesselchen, dann endlich laufen Ole Lagerpusch und Wiebke Mollenhauer in neckischen Showkostümen durch sämtliche Nischen des Dekors und geben, in hastiger Schnappatmung, Mark Terkessidis 9tes Gebot – das mit dem Haus der Nachbarn, das man nicht begehren soll, als Politkabarett, mit grellen, bühnenoffenen Einlagen. Ausgehend von der Hausbesetzung der 80er Jahre bis zur aktuellen Neiddebatte führt der lustige Text, der auch von der kulturellen Enteignung derjener erzählt, die dem politisch korrekten Bürgertum heute als neue Rechte unangenehm auffallen.

„Weißt Du diese Korrektheit,  das ist ein Aberglaube zur Neidabwehr. Wir haben zwar voll den Schotter und wollen echt unter uns bleiben, aber wir sind ja so korrekt, damit man es nicht merkt. Draußen sind nämlich die Prolls, das sind die Rassisten, aber weißt Du, das sind die, denen man in den letzen zwanzig Jahren alles geklaut hat. Die Jugendkultur Bodybuilding. Das Fussballstadion.“

Der lange Abend changiert zwischen Kabarett, pathetischen Seelenerkundungen und Albernheiten, findet aber seine Mitte nicht, nicht also den Ort, von dem aus das Theater mit seiner konkreten Welterfahrung gegen die harsche Grammatik von zehn Gebotssätzen angehen könnte. Was raus kommt, ist eine bunte Weltanschauungsrevue mit stark wechselndem Unterhaltungswert.