Tartuffe in Paris
Die dreiaktige Urfassung endlich aufgeführt
von Eberhard Spreng
„La Maison de Molière“ wie man die Comédie-Française gerne nennt, bringt anlässlich des 400. Geburtstages des großen Dramatikers eine Neuinszenierung des Belgiers Ivo van Hove heraus: „Le Tartuffe ou L’Hypocrite“. Das ist nicht die bekannte, fünfaktive Version von 1669 über den frömmelnden Heuchler, sondern die verschollene, von Molièreforschern rekonstruierte Fassung von 1664.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 18.01.2022 → Beitrag hören
Deutschlandfunk Kultur, Fazit – 17.01.2022 → Gespräch hören
Ganz am Anfang, wenn noch kein Wort gefallen ist, sehen wir Orgon, wie er in einem vergammelten Kleiderhaufen einen Körper entdeckt, wie er ihn heraus holt, wie dann seine ganze Familie diesen Mann behutsam entkleidet, badet und mit Anzug und Krawatte ausstattet. Da wird mit einem Bild stiller Barmherzigkeit ein Penner ins Leben zurückgeholt. Wann immer in Ivo van Hoves Tartuffe-Inszenierung von Religion die Rede sein kann, dann nur in diesem dem Dramengeschehen vorangesellten Eingangsbild. Hier ist das Religiöse nichts, was mit dem Heuchler Tartuffe plötzlich in die Familie kommt. Es ist schon da. Aber Tartuffe ist für Orgon, seine Frau Elmire, seinen Sohn Damis und für all die anderen mit Ausnahme der lebensklugen Dienerin Dorine eine perfekte Projektionsfläche für die unausgelebten Gefühle. Allen voran für den emotional ausgedörrten Familienvater Orgon, den der auch vom Film bekannte Comédie-Francaise-Star Denis Podalydès verkörpert.
„Chaque jour à l’église il venait d’un air doux,
Tout vis-à-vis de moi se mettre à deux genoux.
Il attirait l’attention de l’assemblée entière
Par l’ardeur dont au ciel il poussait sa prière.“
Das Ensemble spielt in moderner Kleidung und auf der Bühne steht nichts als ein Podest mit zentraler Treppe. Links sind eine Reihe von Umlenkrollen installiert, mit denen lauter kleine Kronleuchter und andere Lichter von oben herabgelassen und wieder heraufgezurrt werden können, eine Art zweiter, künstlicher Schnürboden im Blickfeld des Publikums. Zum 400. Geburtstag des großen Nationaldichters hat Ivo van Hove nach psychologischer Aufladung der Figurenbeziehungen gesucht. Er wählte die vom Molière-Forscher Georges Forestier rekontruierte dreiaktige Fassung des bekannten Stücks. Es ist die 1664 verbotene erste Fassung des Stücks, deren Text verloren gegangen war. Hier wird nicht Tochter Mariane von Tartuffe um ihre Heiratshoffnungen gebracht, sondern Sohn Damis. Und Tartuffe ist hier noch nicht der Betrugsstraftäter, der Kriminalfall, den königliche Justizbeamte am Ende aufklären.
Ivo van Hove legt ihn vielmehr als eine Figur mit ungeheuren affektiven Fähigkeiten an, jemand, der mit jeder und mit jedem in dieser emotional ausgedörrten Konfliktfamilie ganz unterschiedlich umgeht. Und einer, der die unterdrückte Homosexualität des Hausherren aufflammen lässt.
Wie in einem bizarren Ritual stehen sich da Orgon und der Tartuffe des smarten Christophe Montenez aufrecht gegenüber, lassen ihr Hände sich annähern und wie in einem mysteriösen Magnetfeld umeinander kreisen, ohne sich je berühren zu dürfen. Selten sah man auf der Bühne ein krasseres Bild unterdrückter Homoerotik. Und für ein einziges Mal kommt da keine Sprache aus den Mündern sondern unförmige Laute: Drama, Chaos, Aufruhr der Triebe. Ansonsten aber dient die reiche Sprache vor allem als Maske unterdrückter Gefühle. Großartig, wie hier Molières Komödienlyrik handfesten Streit, philosophische Debatte und das Liebesspiel von Tartuffe und Elmire überlagert.
Tartuffe und Elmire sind ernsthaft ein Paar
„Sied-il bien de tenir une rigueur si grande,
De vouloir sans quartier les choses qu’on demande,
Et d’abuser ainsi par vos efforts pressants
Du foible que pour vous vous voyez qu’ont les gens ?
– Mais si d’un œil bénin vous voyez mes hommages,
Pourquoi m’en refuser d’assurés témoignages ?“
Elmire und Tartuffe, das ist hier mehr als eine Versuchsanordnung, um dem blindgläubigem Orgon die Machenschaften des Tartuffe zu beweisen. Sie sind wirklich ein Liebespaar. Zum kurzen Schluss greift dann die Regie doch heftig in die Dramaturgie ein oder besser verschärft, was in ihr angelegt ist: Alle haben nun das Spiel verstanden, das hier gespielt wird, bis auf Madame Pernelle, die sittenmoralisch verbohrte Mutter des Familienvaters. Also – dieser Spoiler muss sein und stört nicht den Genuss an der Comédie Francaise – wird Madame Pernelle rasch mit Blumen bedeckt und im Krematoriumsofen entsorgt. Und aus Orgon wird der Penner, der Tartuffe am Anfang war. Dem ist nun alles zugefallen: Reichtum, Frau Elmire, die von ihm ein Kind erwartet und der Rest einer geläuterten Familie. Ein zynisches Schluss. Ein böses Ende. Die falsche Frömmigkeit, die das Stück umflort, und die noch Ariane Mnouchkine in den 90er Jahren mit dem Islamismus erfolgreich aktualisierte, sie ist hier getilgt. Ivo van Hove interessiert nicht der Konflikt von gespielter und erlebter Sittlichkeit, sondern der Konflikt von gespielter und erlebter Emotionalität. Das Molièrejahr beginnt politisch, wenn auch als die Politik des Privaten.