Nobelpreisliteratur auf der Bühne
Eine qualvolle Ekstase
von Eberhard Spreng
Der internationale Romanerfolg „Die Vegetarierin“ war wohl ausschlaggebend für die Entscheidung des Nobelpreis-Komitees, der jungen Koreanerin Han Kang den Literaturnobelpreis zuzusprechen. Die italienische Regisseurin Daria Deflorian hat ihn auf die Bühne gebracht: Beim Pariser Herbstfestival in der Bertier-Halle des Théâtre de l’Odéon.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 11.11.2024 → Beitrag hören
Ein Mann hat sich in angeschmuddeltem Dekor vor das Publikum gestellt. Das ist eine grau gestrichene Wohnung, die wie die Trash-Version eines David-Lynch Filmsets aussieht: Ein Ort, an dem hinter der Maske der Normalität das blanke Grauen lauern könnte. Dieser Mann ist ein kleiner Angestellter ohne Ehrgeiz und ohne Ambitionen.
„Es war nur folgerichtig, dass ich eine Frau wählte, die an Durchschnittlichkeit kaum zu überbieten war. Meine Erwartungen wurden voll und ganz erfüllt. Ich hatte eine ganz normale Ehefrau bekommen, ohne lästige Extravaganzen.“
So steht es in Han Kangs Roman „Die Vegetarierin“ auf den ersten Seiten und so erzählt es der Schauspieler Gabriele Portoghese in dieser italienischen Realisation auf dem Herbstfestival in Paris. Da wird mit nüchternen, traumwandlerisch einfachen Gesten und Bewegungen auf der Bühne illustriert, was diese Nobelpreisliteratur erzählt: Die langsame Metamorphose von Yong-Hye, einer Frau, die plötzlich entscheidet, alles Fleisch und allen Fisch aus dem häuslichen Kühlschrank zu entfernen und in Müllbeutel zu entsorgen. Dann wird sie an der Seite ihres Mannes bei einem Geschäftsessen mit ihrer Verweigerung gegenüber der fleischlastigen koreanischen Küche auffallen. Später ruft der Ehemann ihre Eltern und ihre Schwester zu Hilfe. Beim anschließenden Familienessen kommt es zum Eklat: Ihr autoritärer Vater zwingt Yong-Hye Fleisch auf, das sie ausspuckt, zu einem Messer greift und sich eine Pulsader aufschneidet. Als Begründung für ihre Abstinenz sagt Yong-Hye immer nur: „Ich hatte einen Traum“.
„Da sah ich Hunderte von riesigen roten Fleischstücken an langen Bambusstangen hängen. Blut rann von den frischen Stücken herunter. Ich lief an unendlichen Reihen von Fleischstücken entlang und fand keinen Ausgang.“
Treu des Romans hat Monica Piseddu in der Titelrolle selten das Wort. Aus der Perspektive der anderen wird von ihrem Protest gegen Rollenbilder der koreanischen Frau, gegen Ernährungsgewohnheiten und Paternalismus, gegen die Zwänge der körperlichen Existenz erzählt: Zunächst aus der Perspektive des Ehemanns, dann des Schwagers und schließlich der älteren Schwester. Die Literatur selbst macht ihre Protagonistin zum Objekt von Projektionen. Ganz greifbar wird dies in der Videokunst des Schwagers, der Yong-Hye per Farbprojektionen mit floralen Mustern versieht. Auch wenn die Pflanzwerdung ihr Ziel ist: Die Bilder der anderen zeigen sich auf ihrer Haut. Dies ist ein Vorgriff auf die klinische Dimension der Geschichte, bei der die Protagonistin schließlich ihren Ausstieg aus dem tierischen Dasein erklärt und ihren Eintritt in die Flora verkündet: Ihre Nahrungsverweigerung ist radikal: „Ich bin kein Tier mehr. Ich brauche keine Nahrung. Ich brauche nur Sonne“, sagt sie.
Han Kang schildert die Abkehr von Familie, Gesellschaft, aus der Welt der kulturellen Zeichen und schließlich aus dem eigene Stoffwechsel in einer nüchterner Sprache, abseits existentieller Metaphorik oder Allegorie. Es ist eine innere Ekstase, die sich dem Außen kaum verständlich machen kann. Das macht Yong-Hyes Schicksal so unerträglich, denn das hier ist keine heilige Askese, bei der am Ende des Leidensweges eine metaphysische Erlösung zu erwarten ist. Grausamkeit und satirische Bitterkeit hat man dem Roman bescheinigt. Daria Deflorian zeigt ihn mit kargen szenischen Mitteln als Meditation und Alptraum.
Die Bildersprache dieser Theaterversion prägt eine geradezu auffällige Prüderie. Wo der Roman die erotische Dimension der Metamorphose auskostet, zum Beispiel beim Body-Painting mit floralen Mustern, zeigt das Theater eine berührungsfreie Projektion: Ein Overheadprojektor wirft Farbmuster auf den weit entfernten nackten Körper. Das ist stimmig, denn das Theater, diese Kunst der Inkarnation, sollte mit vorsichtiger Distanz von einer Geschichte erzählen, deren Ziel eben Desinkarnation ist und der Protest gegen das Gefangensein im eigenen Körper. Einen stillen Abend hat die italienische Regisseurin eingerichtet, aber hinter den leisen Tönen schreit das ganze menschliche Dasein nach Erlösung.