Frank Castorf inszeniert Kleiner Mann-was nun von Hans Fallada

Frank Castorf inszeniert
Auf Panzerrädern immer im Kreis
von Eberhard Spreng

Vor einigen Wochen sorgte Frank Castorf bei einem Interview für die Berliner Zeitung bei Teilen des deutschen Feuilletons für Aufsehen. Er bezeichnetet die Wahlerfolge der AfD als „Rache des Ostens“. Das Interview entstand während seiner Vorbereitungen auf die Premiere seiner neuen Arbeit am Berliner Ensemble, die wiederum vor der Machtergreifung der Nazis spielt: Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 15.09.2024 – Beitrag hören

Foto: Just Loomis

Eine leere Bühne mit lauter kuriosen Gestalten in glitzernden Show-Kostümen. Die gehen erst einmal zur rückseitigen Bühnenwand, zerren ein gewaltiges roten Seidentuch herunter und tragen es von der Bühne. Das kann man als eine rote Fahne verstehen, als ideologische Einfärbung, mit denen diese Menschen nicht in Berührung kommen wollen und die sie doch während über fünf langen Stunden nicht mehr loslässt. Hans Fallada erzählt in seinem Roman von einem Pärchen, das trotz der Überlebenskämpfe in der Weltwirtschaftskrise und der sterbenden Weimarer Republik am kleinen privaten Glück festhalten will.

Frank Castorfs Verfahren bestand ja fast immer schon darin, die erzählten fiktionalen Geschichten mit den Lebenswirklichkeiten ihrer Autorinnen und Autoren zu konfrontieren. Hier erzählt er zu Beginn der Aufführung von Hans Falladas psychischer Instabilität und seiner Drogenabhängigkeit.

„Nie wieder Kokain, nie wieder Kokain
Ich hab so viel zu erzählen und gar nix zu sagen,
sage nur noch was ich denke
doch ich denke nicht mehr viel…“

In dem Song des Schweizer Singer-Songwriters Faber gipfelt Castorfs Einführung in die Psycholandschaft des Rudolf Dietzen, der unter dem Pseudonym Hans Fallada berühmt wurde und Zeit seines Lebens Morphinist war. Andreas Döhler schlüpft an dem langen Abend in die Haut des Autors. Auch Hans Falladas Romanprotagonist ist eine vielschichtige, ja brüchige Gestalt und wird im Wechsel von mehreren Darstellern verkörpert: Zunächst von einem Maximilian Diehle, der mit großen Augen eine Welt bestaunt, die sich ihm nicht erklärt und dann von einem Jonathan Kempf, der an der Seite seiner naiven Frau mit mühsam unterdrückter Wut sein privates Glück durchsetzen will.

„-Lämmchen, Lämmchen, bitte bitte, weine doch nicht, bitte Lämmchen, du liebste aller Frauen…
– Ja aber ich weiß doch gar nicht wo wie hier sind, guck dich doch mal um ,was is’n das.“

Nach seiner Entlassung aus seiner Arbeit in der Provinz hat es Johannes Pinneberg und seine „Lämmchen“ genannte Frau in den Moloch Berlin verschlagen, der sich den Videokameras als ein kunterbunt stylisches Spiegelkabinett präsentiert. Wir sehen das nur auf eine Video-Leinwand projiziert. Castorfs exzellentes Kamerateam leistet auch hier wieder mit präzis quadrierten, markant ausgeleuchteten Bildern Erstaunliches.

Ebenfalls nur auf den Leinwänden erleben wir finstere Szenen, die in der Untertechnik des Berliner Ensembles aufgenommen werden: Große Laufrollen sind da aufgestapelt. Die Drehbühne sei auf ihnen gerollt, so sagt der Regisseur im Programmheft, Helene Weigel habe sie in den 1950er Jahren der Roten Armee abgekauft, wo sie im T-34 Panzer montiert gewesen seien. In grell überbelichteten Schwarz-Weiß-Bildern harren in diesem Dekor Uniformierte aus, Hitler ist schon tot, der Russe kommt. Eine Schlüsselszene aus Heiner Müllers „Die Schlacht“ erzählt, was Kleinbürger wie Pinneberg historisch erwartet.

Ein Gedankenfaden unter vielen anderen, die unverbunden bleiben. So wird die Aufführung zur Themensammlung, zur bildmächtigen Politrevue, mit zahlreichen musikalischen Einlagen von Ton Steine Scherben bis zu Ernst Buschs Lied von der Jarama-Front, die eine blutige Schlacht des Spanisches Krieges besingt.

„Die Granaten, sie rissen in unsere Reihn
So manche blutende Lücke…“

Castorfs Themenabend ‚Der kleine Mann und die Weltpolitik’ stützt sich auf ein exzellentes Ensemble bei denen auch die beiden Lämmchen-Darstellerinnen Pauline Knof und vor allem Maeve Metelka überzeugen. Eine Entdeckung ist Artemis Chalkidou: Wie ein in die enge getriebenes Tier kämpft sie für ihre Existenz, ein Musterbeispiel für die expressionistische Spielweise, mit der Castorf hier einem bis zur Seelenkälte ausgenüchterten Sprachwerk begegnet, das man literaturgeschichtlich gerne der Neuen Sachlichkeit zurechnet.

Der Regisseur erzählt, und dies eher erfolgreich, von der Dialektik von Autor und Werk. Eher weniger erhellend ist die Dialektik von Stoff und Weltgeschichte. Denn die wirkt wie eine Neuauflage von Castorf-Abenden der vergangenen Jahrzehnte. Auch hier wieder sollen Heiner-Müllereske-Denkmuster die Welt erklären. Aber hat diese sich im Schatten des Ukrainekrieges nicht völlig verändert? Und verändert dies nicht auch unseren Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts? Etwas verwirrt und etwas unbehaglich verlässt man das Theater in die kalte Berliner Nachtluft.