Forced-Entertainment-zeigt-Shakespeare-als-Table-Top-Theater

Abb.: Forced Entertainment

Shakespeare im Küchenformat
My Favorite Things
von Eberhard Spreng

Alle 36 Shakespeare-Stücke in Form von Table Top Figurentheater: Das ist die Antwort der englischen Performance-Gruppe Forced Entertainment auf den Lockdown in der Coronakrise: Ihre Figuren sind Objekte des Alltags, die Bühne sind nun Tische in den Privatwohnungen des Ensembles: „Complete Works – Table Top Shakespeare”.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 16.11.2020 → Beitrag hören

„Hallo und herzlich Willkommen“, sagt Claire Marshall, „normalerweise spielen wir in Theatern, aber das hier ist die Bei-uns-Zuhause-Ausgabe“

Die Performerin der englischen Gruppe Forced Entertainment sitzt hinter einem großen Holztisch. Hinter ihr ein Herd, darüber eine gekachelte Wand im Schachbrettmuster, darunter: rustikale Einbauschränke. Sie greift neben sich und holt von einem der beiden dem Blickfeld der Kamera verborgenen Hocker ein schwarzes Töpfen und stellt es mitten auf die Tischplatte. Es ist, so erklärt sie uns, der ehrgeizige und charismatische Richard der Dritte. Bald kommt eine Schachtel Hustenbonbons dazu und drei Neun-Volt-Batterien, die Bruder George und eine bewaffnete Leibgarde verkörpern. Dann kommen immer mehr Haushaltsgegenstände dazu, immer mehr Personal der blutigen Geschichte um den Bösewicht. Fiktion trifft auf Authentizität: Alle Objekte stammen aus dem Haushalt der Performerin. Nach einer dreiviertel Stunde und unzähligen Morden ist das nacherzählte Shakespeare-Stück schon zu Ende.

Shakespeare als Soloperformance. Drei Frauen und drei Männer haben sich der Mammutaufgaben gestellt, alle 36 Shakespeare-Stücke auf die Tische ihrer privaten Küchen und Wohnzimmer zu bringen. Aus den bösen Intriganten Jago im Othello wird eine Chesterfield-Zigarettenpackung, aus seinem Kumpel Rodrigo ein Feuerzeug. Desdemona, zu Unrecht der Untreue beschuldigt, wird etwas despektierlich, von einer leeren Schweppesdose vertreten. Die Katharina aus der „Widerspenstigen Zähmung“ ist in doppelter Ironie: eine etwas kitschige Porzellanrose. Ihr Bezwinger in diesem inzwischen als frauenfeindlich in Verruf geratenen Stück ist ein Senfglas in Bierhumpenform.

Caliban als struppige Fenchelknolle

Wann immer sich in diesem „Shakespeare-Daheim“-Universum eine Figur verkleidet, wird das stellvertretende Haushaltsobjekt einfach umgedreht. Wann immer eine Figur stirbt, wird sie flachgelegt. Unter die unbelebten Objekte hat sich im „Sturm“ – auch, als Zeichen für seine triebhafte Natur, ein Gemüse gemischt: Eine struppige Fenchelknolle steht für Caliban. Nach Jahren, in denen die Gruppe um Tim Etchells solches Figurentheater vor den Augen von leibhaftigen Zuschauern vorgeführt hat, funktioniert auch die ins Private verlegte Corona-Version. Bei einer Fragerunde nach der letzten Onlinepremiere gestern Abend erklärte der Forced Entertainment Akteur, Richard Lowdon, die geheimnisvolle Poesie der unbelebten Alltagsgegenstände.

„Das bedeutet ein sehr aktives Zuschauen: Das Publikum verleiht diesen Objekten Sinn und Emotion. Mindestens so wie wir, die spielen, die sich um sie kümmern, damit sie in der Vorstellung der Zuschauer und Zuschauerinnen lebendig werden. Ich habe absurderweise immer ein ganz trauriges Gefühl, wenn ich eines dieser Objekte hinlege, wenn eines dieser Objekte getötet wird, oder stirbt. Obwohl es ja nie wirklich lebte. Eine bizarre Magie.“

Forced Entertainment verschlankt Shakespeare, seine Tragödien, seine Komödien und seine historischen Stücke aufs narrative Skelett. Ein Star unter ihnen wie etwa „Macbeth“ hat mittlerweile knapp 10.000 Aufrufe bei Youtube, die Unbekannteren mehre Hundert. Vorgetragen werden sie in etwas getragenem, feierlichen Ton, ganz egal ob hier eine blutige Mordgeschichte oder eine komische Verwechslungskomödie erzählt wird. Der hohe Ton hilft. Er setzt der Verniedlichung der Welt den Ernst entgegen, beschwört Sinn, wo doch in Lockdownzeiten Wirklichkeits- und Sinnverlust droht. Optisch erinnert das sehr an Choreografien, wie sie in der systemischen Familienaufstellung in der Psychotherapie entstehen, wenn eine Patientin oder ein Patient kleine Figürchen auf dem Tisch positioniert und deren Positionen zueinander helfen bei der Therapie verdeckter, unaufgearbeiteter Konflikte. Shakespeare privat, Shakespeare zum Schmunzeln, seine große Welt- und Dramengeschichte als ein privates Küchen-Universum, im Voodoo der Alltagsobjekte. Youtube-Zuschauer kennen so etwas seit vielen Jahren: Z. B. Sommers „Weltliteratur to go“, Videos, die mit Playmobil-Figuren große dramatische und epische Werke auf 10 Minuten kondensieren. Nun also Forced Entertainment mit einer Shakespeare-Enzyklopädie, die Lesefaule und Theaterungeduldige ansprechen kann. Kaum mehr als eine Stunde dauern viele der Tischwerke, die auf der Theaterbühne nicht unter drei Stunden zu haben waren.

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