Felwine Sarr in Avignon
Die Freiheit in den Köpfen
von Eberhard Spreng
Felwine Sarr gilt als einer der führende Köpfe einer kulturellen und politischen Selbstbestimmung Afrikas. Der Soziologe schrieb mit „Afrotopia“ einen Aufruf zur Selbstdefinition der afrikanischen Wirtschaftentwicklung. Jetzt spielt er in Avignon seine Textkollage „Liberté, j’aurai habité ton rêve jusqu’au dernier soir“.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 16.07.2021 → Beitrag hören
Ende Juni wurde ein großes Denkmal vor der Pariser Assemblée Nationale mit roter Farbe besprüht und sein Sockel mit einem Schriftzug versehen: „Négrophobie d’Etat“ – „staatliche Negrophobie“ stand da an der wohl prominentesten Stelle der französischen Republik. Das Denkmal ehrt Colbert, den Finanzminister Ludwig des Vierzehnten, Schöpfer des Merkantilismus und Verfasser des „Code Noir“, des ersten Gesetzeswerkes, das den Umgang mit den Sklaven in den französischen Kolonien regelte. Drei Wochen später tritt Felwine Sarr, Vordenker der schwarzen Selbstbestimmung in einer ungleich froheren Atmosphäre des Sommertheaters vor sein Publikum – im Innenhof einer Stadtresidenz aus dem 18. Jahrhundert. Es ist ein Tag nach dem 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag. Der Abendhimmel ist heiter, der Mistral treibt einige Wolken über die Rhônestadt.
Der Wissenschaftler als Performer
Begleitet von musikalischen Zwischenspielen steht der Soziologe auf der Bühne und erinnert an zwei Vorbilder im Kampf der Selbstbefreiung von Rassismus, Kolonialismus und Okkupation. Es sind der zum Emblem der Entkolonisierung gewordene Frantz Fanon und der französische Poet und Widerstandskämpfer René Char. Eingefasst von einer kleinen Rahmenhandlung spricht Felwine Sarr, begleitet von zwei weiteren Performerinnen und einem Musiker, deren Texte. Die zentrale Frage ist: Was unterscheidet weißen von schwarzem Widerstand. Char und Fanon kämpften gegen die Naziherrschaft in Frankreich. Aber Fanon machte zusätzlich seine Erfahrungen mit dem Rassismus in der französischen Befreiungsarmee unter de Gaulle. Während René Char nach 1945 ins Zivilleben zurückkehren kann, hat für Frantz Fanon der zweite Befreiungskampf gerade erst begonnen: der für die Dekolonisierung des Denkens und die staatliche Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien.
„Die Dekolonisierung“, so zitiert hier Felwine Sarr den Psychiater Frantz Fanon, „betrifft vor allem das individuelle Sein, schafft eine neue Sprache und ein neues Menschsein. Die kolonisierte Sache wird Mensch.“
Felwine Sarr spricht, bühnenoffen und im kargen Dekor, ohne jeden Realismus, diesen und andere Texte von Fanon und streut Poetisches von René Char ein. Er betont so die Rolle einer befreiten Sprache im Prozess der Selbstschaffung des dekolonisierten, neuen Menschen. Mit Sartres Existentialismus wäre dieser durchaus kompatibel. Für Momente scheint die Möglichkeit auf, Felwine Sarr könne, mit Fanon und Sartre im Gepäck, den neuerdings umstrittenen abendländischen Universalismus doch noch retten. Gegen die Versuche woker Amerikaner und Amerikanerinnen und ihrer europäischen Schüler, ihn als Erfindung des alten weißen Mannes im Mülleimer der Geistesgeschichte zu entsorgen. Aber auch Felwine Sarr mahnt: „Wir vergessen, dass der Universalismus ‚pluriversell’ ist, dass wir zwar alle dieselben menschlichen Erfahrungen machen, dass wir aber diese Erfahrung nicht mit demselben Gesicht machen können.“
Am Ende der Aufführung greift Sarr, der Ökonom, Autor und Musiker selbst zur Gitarre und wird für Momente ganz Künstler unter Künstlern.
Auch am Vorabend des französische Nationalfeiertages war vom Widerstand gegen Besetzung und Unterrückung die Rede. Im Papstpalast, als vor fast zweitausend Zuschauerinnen und Zuschauern anlässlich seines einhundertsten Geburtstages der Philosoph Edgar Morin geehrt wurde. Wie René Char war der Vordenker der Systemtheorie einst Mitglied der Résistance. Infolge geburtstagsfeierbedingter Erschöpfung konnte er nicht persönlich anwesend sein und wurde aus Paris per Großvideo auf Papstpalastwand zugeschaltet. Er mahnte das Festivalpublikum, das Projekt ‚Widerstand’ nicht aufzukündigen.
„Das sind nicht mehr dieselben Gegner. Aber die Barbarei, ja die Barbareien bleiben. Die alten: Hass, Herrschaft, Folter, Krieg, kommen zurück, und zusätzlich haben wir nun die kalte Barbarei des Kalküls, das die besten Errungenschaften der europäische Kultur ruiniert. Gegen diese Regressionen muss das Wort Widerstand seinen Wert behalten.“
Freiheit war das Stichwort am diesjährigen Nationalfeiertag. Während dessen zeigen ein Virus und Meldungen von Umweltkatastrophen immer deutlicher die Grenzen menschlicher Bewegungs- und Handlungsfreiheit auf.