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Fabian Hinrichs an der Volksbühne
Der Tanz um den Sockel der Idole
von Eberhard Spreng

König Sardanapal verweigert im Dienste des Genusses seine staatsmännische Pflichterfüllung – bis in den Untergang. Fabian Hinrichs sieht in dem Protagonisten von Lord Byrons weitgehend unbekanntem Stück ein Vorbild für eine heute notwendige Selbstbefreiung. Benny Claessens schmiss kurzfristig hin. Hinrichs musste die Premiere fast immer Alleingang meistern.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.04.2023 → Beitrag hören

Foto: Apollonia T. Bitzan

„Iss, trink und lieb, der Rest ist keinen Cent wert.“ Der Spruch könnte an einem Supermarktschaufenster kleben, als Credo einer Zivilisation, die keine anderen Ziele mehr hat, als individuellen Hedonismus. Genuss als Verpflichtung für alle. Es ist aber ursprünglich eine Zeile aus Lord Byrons „Sardanapal“ über den genuss- und sexsüchtigen Herrscher, der sich staatsmännischen Verpflichtungen verweigert und sich selbst und seinem Volk ungehemmten Genuss verordnet. Vor zweihundert Jahren wusste der Dandy und Libertin, der Revolutionär und Aristokrat Byron noch nicht, in welch schrecklichen Formen der Genussmensch von heute seine Bedürfnisbefriedigung zelebrieren muss. An einer Supermarktkasse rechts vorn auf der Bühne haben sich zahllose Menschen angestellt, mit all den Alltagswaren, in denen sich das Genussversprechen heute manifestiert. Auch der in einen schwarzen Anzug gekleidete Fabian Hinrichs, der sich vordrängelt, um die von Lilith Stangenberg verkörperte Kassiererin nach ihren geheimen Wünschen zu befragen.

„Ich hungre nach etwas, was ich nicht bekommen werde, alles ist flach und schal, müde und verbraucht, eh es gebraucht wird.“

Die Schauspielerin räkelt sich auf dem Boden in einem Rewe-Markt auf ausgestreutem Sand, übergießt sich mit Wasser aus der Plastikflasche und träumt sich an den zypriotischen Strand der Aphrodite, zurück ins Ferienglück und in den Mythos. Der ist, so zeigt uns diese frühe Szene nur noch als jämmerliche Parodie zu haben. Und vieles, was Fabian Hinrichs in der Folge noch an szenischen Setzungen aneinanderreiht, ist die gesammelte Trauer über diesen Umstand.

„Das ist so schön! Wunderschön! Das hab ich so lange nicht mehr gehört, so lang. Es kommt mir vor als hätte ich es zweihundert Jahre lang nicht gehört.“

Ein unendlich melancholischer Hinrichs lehnt in Lord-Byron Attitüde an einem Piano und träumt. Dann wieder aber tanzt er auch zu Barry Whites „Let The Music Play“ über die Bühne. Er lässt Tänzerinnen und Tänzer in farbenfroher Kleidung einen Schwerttanz vollführen, lässt die gewaltigen Hubpodien der großen Volksbühne nach unten fahren und einen blau schimmernden Euphrat erahnen. Aus diesem Graben steigt dann wiederum das wirklich bemerkenswerte Jugendsinfonieorchester des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums hervor, in roten Rewe-T-Shirts, und intoniert Abbas „Dancing Queen“. Auch ein Youtube-Video mit Byron-Zitaten darf nicht fehlen.

– „Ich schlief und träumte, dass das Leben Schönheit sei. ich wachte auf und stellte fest, dass das Leben Pflicht war.“
– Ja! Ja!
– Ein Tropfen Tinte kann eine Million zum Nachdenken anregen.
– Nein! Nein!“

Hinrichs muss Benny Claessens ersetzen

All das wirkt wie zufällig in einer Byron-Revue versammelt, durch die Hinrichs wie ein Conferencier führt, bevor er schließlich den Mitstreiter vertreten muss, der einen Tag vor der Premiere, wohl wegen künstlerischer Differenzen, geschmissen hat. Benny Claessens, Inbegriff einer egozentrischen, fast anarchisch aggressiven Selbstfeier, muss ersetzt werden. Hinrichs versucht es, im Kampf mit Textbuch und Weinglas und anderen Requisiten. Man darf sich Claessens quäkend-klagenden Sprechmelodien also hinzudenken, aber auch das bringt einen nicht wirklich der Lust am schönen Untergang nahe, den „Sardanapal“ zelebriert. Hinrichs sagt die paar Blankverse, die sich aus dem Stück in seinen Themenabend verloren haben, mit Mühe auf, so als wüsste man in unserem heutigen Theater von vorn herein, dass man zu so einer Poesie sowieso nicht mehr befähigt ist.

Foto: Apollonia T. Bitzan

Nur einmal gelingt immerhin ein großes Theaterbild: Unter einem gewaltigen roten Tuch hat sich das Tanzensemble zu einer geballten Masse versammelt. Lilith Stangenberg lässt sich empor tragen wie von einer großen Naturgewalt, einer Flammfront der Transgression. Für einen kurzen Moment schließt dieses Theater auf zum morbiden Pathos der burlesken Tragödie, als die Hinrichs „Sardanapal“ versteht.

Fabian Hinrichs schwärmte in der FAZ von dem Stück

2019 hatte er in einer Serie der FAZ über vergessene Meisterwerke der Dramatik für das Stück eine Lanze gebrochen. Er hatte an Byrons Einfluss auf Eugène Delacroix erinnert, der in seinem gewaltigen Gemälde von 1827 „Der Tod des Sardanapal“ die spätere schwarze Romantik vorwegnimmt. „Dieses Bild“, so schrieb Hinrichs vor dreieinhalb Jahren, „wird von Kunsthistorikern gerne als ‚Orgie aus Farbe und Bewegung’ beschrieben. Wäre es nicht herrlich, eine solche Orgie auch im Theater erleben zu können?“ Ja, wäre es, aber Hinrichs Theaterabend springt und hüpft nur um den viel zu hohen Sockel herum, auf den er seine Vorbilder gehoben hat.